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Jedes Sandkorn zählt

Von Gerhard Lechner

Sand

Sand scheint alltäglich, banal - und unbegrenzt verfügbar. Doch in weiten Teilen Asiens ist der Markt heiß umkämpft. Die unscheinbare Ressource ist als Baustoff im Wirtschaftsboom begehrt.


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Bombay/Wien. Manchmal muss der Mann, nennen wir ihn Vijay, einen Schluck Whisky trinken. Einen Schluck vor der Arbeit, gegen die Nervosität. Und dann geht es hinab. Siebzehn Meter tief taucht der Mann aus dem indischen Mumbai - ohne Sauerstoffflasche, ohne Maske. In der rechten Hand hält Vijay einen kleinen Kübel, die linke legt er um eine Bambusstange. Sie ist seine Lebensversicherung. Er darf sie nicht loslassen, während er den Kübel mit dem begehrten Material vollstopft. Verliert er den Kontakt zur Stange, kann ihn die Strömung in den Tod reißen. Viele sind schon tödlich verunglückt, einige waren Kinder. Unzählige Trommelfälle sind geplatzt. Länger als zwei Minuten darf Vijay nicht in der dunklen, unwirtlichen Umgebung bleiben.

Es muss schon ein begehrtes Material sein, das der Taucher jeden Tag an die Oberfläche holt. Und das ist es auch. Es handelt sich, man mag es kaum glauben, um simplen, alltäglichen Sand. Sand, wie er auf den Stränden, an den Meeren und in den Flüssen der Welt überall zu finden ist. Sand, wie er vom Anbeginn der Welt an stets im Überfluss vorhanden war.

Doch in der aufstrebenden indischen Großstadt Mumbai, und nicht nur dort, ist das scheinbare Alltagsgut rar geworden. Denn Mumbai wächst in atemberaubendem Tempo. Die Stadt ist eine der am schnellsten wachsenden Metropolen der Erde. Wo früher Fischerdörfer waren, umgeben von Mangrovenwäldern, schießen heute die Hochhäuser in die Höhe. Das aufstrebende Asien benötigt für seinen Wirtschaftsboom Unmengen jenes Materials, das das Gesicht unserer Städte prägt: Stahlbeton. "Zwei Drittel aller Bauwerke auf unserem Planeten bestehen aus Stahlbeton", sagte vor einigen Jahren Cyrille Simonnet, der Direktor des Architektur-Instituts der Universität Genf, in der Dokumentation "Sand - die neue Umweltzeitbombe" des französischen Filmemachers Denis Delestrac. "Und dieser Stahlbeton besteht wiederum zu zwei Dritteln aus Sand", fügte er hinzu.

Die Mengen an Sand, die der der moderne Mensch braucht und verbraucht, sind tatsächlich gewaltig. Um ein Haus mittlerer Größe zu bauen, sind 200 Tonnen Sand nötig. Ein Krankenhaus benötigt 3000 Tonnen, und jeder Kilometer Autobahn frisst mindestens 30.000 Tonnen Sand. Für ein Atomkraftwerk muss man mindestens 12 Millionen Tonnen Sand zur Verfügung stellen. Weltweit werden jährlich rund 40 Milliarden Tonnen Sand und Kies verwendet, der überwiegende Teil zur Herstellung von Beton. Nach Wasser ist Sand mittlerweile der Rohstoff, der auf der Erde am zweithäufigsten verbraucht wird. Und das nicht nur für die Bauwirtschaft. Auch beispielsweise in der Glas- und Keramikindustrie findet Sand Verwendung.

Geht der Sand zur Neige?

Das hat Folgen. Denn in manchen Gegenden der Welt geht der Sand zur Neige. Etwa in Singapur. Der asiatische Stadtstaat platzt aus allen Nähten. Er braucht dringend Sand, um neue Bauten für die wachsende Bevölkerung zu schaffen. Höher zu bauen, reicht dabei nicht. Singapur muss sich erweitern, und das geht nur nach dem Meer hin. Der Stadtstaat schüttet deshalb jedes Jahr Unmengen an Sand vor seine Küste, um darauf wieder neue Wolkenkratzer zu errichten. Das Material für die Aufschüttungen muss er aus dem Meer gewinnen. Denn Sand ist nicht gleich Sand. Das musste auch Dubai erfahren. Im arabischen Emirat ist man bekanntlich nicht kleinlich bei der Verwirklichung gigantomanischer Projekte. So hat Dubai nicht nur das höchste Gebäude der Welt errichtet, sondern vor seiner Küste künstliche Inseln in Form einer Palme geschaffen. 12 Milliarden Dollar hat das Projekt gekostet, 150 Millionen Tonnen Sand hat es verschlungen.

Letzteres sollte für das Emirat eigentlich kein Problem sein. Sand gibt es auf der arabischen Halbinsel ja in Hülle und Fülle. Und tatsächlich hat man zu Beginn versucht, die Inseln mit Wüstensand zu bauen. Allein: Es wollte nicht klappen. "Wüstensand wird so lange vom Wind rund geschliffen, dass er fast eine gleichmäßige Kornstruktur hat. Ihm fehlen die feinen und die groben Teile. Er ist so rund, dass er für den Baubereich nur marginal verwendbar ist", sagt Robert Wasserbacher, der Geschäftsführer des Forums mineralischer Rohstoffe, der "Wiener Zeitung".

Für einen kompakten Beton, der sich zum Bauen eignet, brauche man unterschiedliche Korngrößen und -arten. Und für Aufschüttungen wie in Dubai und Singapur Sand, der dem Wellengang standhält.

Die Insel aus Wüstensand rieselte jedenfalls bald ins Meer. Seinen Bausand importiert Dubai heute aus Australien. Findige Unternehmer machen dort mit den unscheinbaren Körnern gute Geschäfte.

Die Sand-Sauger

Der Sand, den Dubai und Singapur brauchen, der findet sich im Meer. Schiffe mit riesigen Saugarmen saugen ihn vom Meeresboden ab. Das verändert das Ökosystem im Meer. Er findet sich auch am Strand. Manche Strände sind bereits leer geplündert. In Indien etwa hat sich eine regelrechte "Sand-Mafia" herausgebildet, die Strände und Meere abgraben lässt. Sie soll die größte kriminelle Organisation des Landes sein. Auch Vijay in Mumbai arbeitet für einen "Sandlord". Solche Leute gibt es in jedem Verwaltungsgebiet. Es sind meist Lokalpolitiker. Von ihnen müssen Unternehmer den Sand abnehmen, wenn sie in einem bestimmten Gebiet bauen wollen. Der "Sandlord" fälscht Lizenzen und regelt den Umgang mit den Behörden. Er heuert auch Banden an, die Kritiker bedrängen und, wenn nötig, ausschalten. Morddrohungen und Attentate sind keine Seltenheit. In den Kriegen der indischen Sand-Mafia sollen schon hunderte Menschen ihr Leben verloren haben.

Die Folgen des Sandraubs sind dramatisch, besonders für kleine Inseln, die in ihrer Existenz gefährdet sind. Indonesien hat 2007 den Sandexport nach Singapur untersagt, weil zwei Dutzend indonesische Inseln durch den Abbau einfach verschwanden.

In Singapur hat das zu einer "Sandkrise" geführt. Das Bauen kam fast zum Stillstand, die Sandpreise verdreifachten sich. Von dem Moment an streuten die Baufirmen in Singapur ihre Bezugsquellen von Sand. Auch in Flüssen wird Sand gewonnen. Etwa in Kambodscha, das Sand - zum Teil illegal - nach Singapur liefert. Die Fischbestände in den Flüssen gingen dadurch stark zurück, die Fischer verloren ihre Lebensgrundlage und müssen sich nach anderer Arbeit umsehen.

Die Folgen des Sandraubs

In Mitteleuropa ist die Situation weniger dramatisch. Es gibt reichhaltige Sand- und Kiesvorräte, theoretisch für hunderte Jahre. "Besonders wir in Österreich haben durch die Alpen ein riesiges Rohstoffreservoir", sagt Jürgen Scherf, Geschäftsführer einer gleichnamigen steirischen Firma, die Produkte aus Sand herstellt, zur "Wiener Zeitung". Und Wasserbacher ergänzt: "Wenn der natürliche Sand aus Kiesgruben einmal zur Neige geht, wird er halt in Steinbrüchen produziert." Wäre es eigentlich vorstellbar, dass einmal Bausand aus Europa nach Asien verschifft wird? Wasserbacher winkt ab. "Sand ist ein schweres Gut", sagt er. Im Vergleich zu den Transportkosten sei sein Wert zu gering. "In Europa wird Sand üblicherweise 20 bis 40 Kilometer weit transportiert, im Umkreis der jeweiligen Kiesgrube. Nur spezielle Sande, etwa für die Farben- und Lackindustrie, werden weiter transportiert", sagt der Experte.

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In Europa: Sand im Überfluss

Trotz dieses Überflusses an Sand für die Bauindustrie gibt es auch in Europa Warnungen vor einem drohenden Mangel. Immerhin ist die Errichtung von Kiesgruben bei Anrainern, deren Immobilien an Wert verlieren und die vom LKW-Verkehr beeinträchtigt werden, unpopulär. Auch hört man Klagen über immer komplizierter werdende Genehmigungsverfahren. "Was sicher wichtig wäre, ist, dass man stärker als bisher auf Recycling setzt", sagt der Unternehmer Scherf. Er plädiert für verpflichtende Recyclingquoten. "Bei Transportbeton oder Tragschichten im Straßenbau kann man mittlerweile problemlos Recyclinganteile beifügen", meint der Unternehmer aus Flattendorf in der Nähe von Hartberg. In der Schweiz sei man da schon viel weiter, dort werde Recyclingbeton bereits im Hochbau sehr intensiv eingesetzt. "Je früher das bei uns kommt, desto weniger Schutt müsste man auf Deponien lagern", sagt Scherf. "Wenn die Ressourcen knapp werden, könnte Recycling die Rohstoffquelle der Zukunft werden."