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Jelena Bonner starb in Boston

Von WZ-Korrespondentin Inna Hartwich

Politik

Tochter von Opfern des Stalin-Terrors kämpfte für Menschenrechte. | Sechs Jahre lebte sie in Verbannung.


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Moskau. Vier Zimmer. Im ersten Stock. Sie sind verwanzt, stets beobachtet und abgehört. Vier einfache Zimmer in einer einfachen russischen Wohngegend. Hier leben sie. Wohnen in der Verbannung. Andrej Sacharow und Jelena Bonner, ein sowjetisches Dissidentenpaar. Hier schreiben sie in den 1980ern Briefe in den Westen und bekommen schwarz-weiße Postkarten mit Durchhaltewünschen zurück. Hier kämpfen sie für ihre Idee einer besseren Welt, für ein demokratisches Russland, gegen ideologisch verblendete Politiker - am Gagarin-Prospekt 214 in Gorki, dem heutigen Nischni Nowgorod. Fast ihr ganzes Leben widmet Jelena Bonner dem Kampf für die Menschenrechte, trotz oder gerade wegen ihres Aufwachsens in einem totalitären Regime. Am Samstag erlag die 88-Jährige in Boston ihrem Herzleiden.

Am 15. Februar 1923 kommt Jelena Bonner in turkmenischen Merw zur Welt - in einer Familie kommunistischer Parteifunktionäre. Es ist eine unbeschwerte Kindheit, die mit 14 Jahren abrupt endet. Der Stiefvater wird vom KGB abgeholt - und kehrt nie wieder zurück. Die Mutter kommt für acht Jahre ins Lager. Das Mädchen irrt durch die Straßen, als "Tochter von Vaterlandsverrätern" will sie niemand aufnehmen. "Ich wurde in dieser Nacht eine andere", wird sie in ihren Memoiren schreiben.

Sie zieht als Krankenschwester in den Krieg, kehrt als Kriegsversehrte im Range eines Leutnants zurück. Aus der KP tritt sie aus - aus Überzeugung, die menschenverachtende Ideologie der Partei raube jegliche eigene Weltanschauung. 1970 lernt sie Andrej Sacharow kennen. 1972 heiratet sie den Physiker, der die sowjetische Wasserstoffbombe entwarf und mit höchsten Orden des Landes ausgezeichnet wurde. Einen Mann, der mit seiner Kritik an der Führung und seinem unerschütterlichen Glauben an die friedliche Koexistenz und die geistige Freiheit schließlich seine eigene Freiheit verliert und zur "Stimme der anderen" wird.

Bonner ist stets an Sacharows Seite, liest im Ausland seine Briefe vor, nimmt für ihn 1975 den Friedensnobelpreis in Oslo entgegen. Sie ist "seine Sekretärin, seine Hausangestellte, sein Chauffeur", wie sie sich in den 80er Jahren beschreibt. Die beiden kritisieren den Staat, kritisieren den sowjetischen Einsatz in Afghanistan. Und finden sich in einer Vierzimmer-Wohnung in Gorki wieder. Verbannt für sechs Jahre. Erst 1986 kommen Bonner und Sacharow frei - weil Michail Gorbatschow sie rehabilitiert.

Bonner unterstützt später Jelzin, tritt aber 1994 aus Protest gegen seine Tschetschenien-Politik nach nur einem Jahr von ihrem Posten in der Menschenrechtskommission zurück. 2010 unterzeichnet sie das Manifest der russischen Opposition "Putin muss gehen". Trotz ihrer zunehmenden Herzbeschwerden kämpft die Wahl-Amerikanerin weiter ihren beharrlichen Kampf für eine bessere Welt - bis ihr Herz am 18. Juni aufhört zu schlagen. Ihre Urne soll in Moskau beigesetzt werden, neben ihrem Mann.