Österreichs Weg zur selbstbewussten Nation - von 37 Zeitzeugen erzählt.
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Gibt es eine Kollektivschuld und eine Kollektivverantwortung? Ich wage, diese Frage in ernsthafter historischer Unbekümmertheit zu verneinen und führe als meinen Kronzeugen den weltberühmten Arzt und Begründer der Logotherapie Viktor Frankl an, der diese beiden ideologisch besetzten Begriffe in seinen Publikationen strikt zurückgewiesen hat.
Ein Kollektivbewusstsein, im vorliegenden Fall ein Österreichbewusstsein, das nach der Gründung der Zweiten Republik im Jahr 1945 nicht vorhanden war, aber dann kontinuierlich gewachsen und gereift ist, gibt es hingegen. In diesem Buch ist es zeitzeugenhaft nachweisbar präsent. Und es gibt auch eine kollektive Erinnerungskultur. Ein Meinungsforschungsinstitut hat für das vorliegende Buch "Unternehmen Österreich" erhoben, welches Ereignis den Österreicherinnen und Österreichern am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben ist. Der Befund: Es war der Unfalltod Jörg Haiders im Oktober 2008. Überraschend, wie die beiden Herausgeber im Vorwort meinen, sei das nicht: Die kollektive Erinnerungskultur sei zeitverhaftet und generationsbedingt.
"Österreich ist frei"
Für meine Generation war jedenfalls der Figl-Satz "Österreich ist frei", den der damalige Außenminister nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages am 15. Mai 1955 einer riesigen Menschenmenge vom Balkon des Oberen Belvedere aus zurief, das historisch prägendste Erlebnis. Beide Ereignisse werden übrigens von Zeitzeugen bunt und lebendig geschildert. Das Zustandekommen der endgültigen Fassung des Staatsvertragstextes erzählt der damals jüngste Beamte des diplomatischen Dienstes, Franz Matscher, der die letzten Textkorrekturen in Ermangelung eines Rotstiftes mit dem Lippenstift seiner Sekretärin anbrachte. Das letzte Interview mit Jörg Haider vor dessen Unfalltod und die Reaktionen der Kärntner unmittelbar nach der Nachricht davon gibt der ehemalige "Antenne Kärnten"-Reporter Arne Willrich mit emotioneller Betroffenheit zum Besten.
Die Beiträge der 37 Zeitzeugen aus Politik, Theater, Film, Journalistik und Sport, die seit 1945 die Geschichte unseres Landes in verschiedenen Positionen geprägt und (mit)gestaltet haben, sind, von ihrer inhaltlichen und sprachlichen Variationsbreite her gesehen, sachlich, informativ, spannungsgeladen, humorvoll, offenherzig, kurzweilig, fein ironisch, unverblümt. Ich greife - pars pro toto - einige heraus. Rudolf Sailer schildert die Rolle, die sein Bruder Toni, der dreifache Olympiasieger von Cortina 1956, als Kristallisationsfigur für die Hebung des österreichischen Selbstbewusstseins gespielt hat. Martha Kyrle, die Tochter von Bundespräsident Adolf Schärf, erinnert sich an das extravagante Auftreten Jackie Kennedys beim Wiener Gipfeltreffen ihres Gatten mit Nikita Chruschtschow. Karl Schranz redet über seine Disqualifikation von den Olympischen Spielen in Sapporo 1972, Karl Merkatz über seinen "Mundl" Sackbauer.
Hainburg, Lucona, Lassing
Der deutsche Rennfahrer Hans-Joachim Stuck spricht über Niki Laudas Unfall beim Rennen am Nürburgring, der Untersuchungsrichter Erik Nauta über den Briefbombenattentäter Franz Fuchs, Waltraud Klasnic über das Grubenunglück von Lassing. Und natürlich ist auch von der Hainburger Au (Freda Meissner-Blau), der Waldheim-Affäre (Paul Lendvai) und von Udo Proksch und der "Lucona"-Betrugsgeschichte die Rede, die der Richter Hans-Christian Leiningen-Westerburg einprägsam verlebendigt. Auch der Fall des "Eisernen Vorhanges" und der EU-Beitritt unseres Landes werden thematisiert.
An die einzelnen Beiträge schließt sich eine fundierte und sorgsame Nachbetrachtung der beiden Herausgeber, die die persönlichen Darstellungen des jeweiligen Ereignisses in das historische Ambiente einbetten. Insgesamt: ein überaus lesenswertes und spannendes Buch über den politischen und gesellschaftlichen Werdegang Österreichs von 1945 bis in die Gegenwart.
Gerhard Jelinek, Birgit Mosser- Schuöcker: Generation Österreich. Prägende Momente der Zweiten Republik. Von Zeitzeugen spannend erzählt. Edition a, 319 Seiten, 24,90 Euro.