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"Jelzin stellte sich über den Staat"

Von Gerhard Lechner

Politik
"Das System Putin ist damals entstanden." Ruslan Chasbulatow, 1993 Vorsitzender des russischen Parlaments, gibt Ex-Präsident Jelzin die Schuld für Russlands "gelenkte Demokratie".
© RIA Novosti

Der Wirtschaftsprofessor rechnet mit der Politik von Ex-Präsident Jelzin ab.


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Wien. Ruslan Chasbulatow, Wirtschaftsprofessor und Ex-Politiker, war Anfang Oktober 1993 Vorsitzender des Obersten Sowjets, des russischen Parlaments. Damals eskalierte der Verfassungskonflikt zwischen Präsident Boris Jelzin, der radikale liberale Reformen befürwortete, und dem von Reformgegnern dominierten Parlament. Die "Wiener Zeitung" hat mit dem 70-jährigen Tschetschenen, der auf Einladung der Forschungsstelle für Eurasische Studien der Universität Wien (FEAS) in Österreich war, über die damaligen Ereignisse gesprochen.

"Wiener Zeitung": Herr Chasbulatow, vor 20 Jahren eskalierte der russische Verfassungskonflikt mit der Beschießung jenes Parlaments, dessen Vorsitzender Sie waren. Wie würden Sie aus heutiger Sicht die damaligen Ereignisse beurteilen?Ruslan Chasbulatow: Genau wie damals. Ich habe mittlerweile wohl rund 100 verschiedene Artikel zu dem Thema geschrieben und einige Bücher. Der Konflikt hatte bereits 1992 begonnen - aber nicht aufgrund eines persönlichen Streits zwischen Jelzin und mir. Im Zentrum stand vielmehr die Frage, wohin sich Russland entwickeln sollte: in eine demokratische oder eine diktatorische Richtung.

Ging es nicht auch um die umstrittenen Jelzin’schen Wirtschaftsreformen?

Um die auch, ja. Ich war ein Gegner des damaligen Wirtschaftsmodells, das Jelzin mit Hilfe von US-amerikanischen Experten angenommen hatte. Diese Politik, die damals in Russland umgesetzt wurde, war dieselbe, die jetzt zur Wirtschaftskrise geführt hat. Davor habe ich schon vor 20 Jahren gewarnt. Das Zweite war: Nach der Niederschlagung des Putschversuchs im August 1991 gegen Michail Gorbatschow konnte sich der Parlamentarismus in Russland sehr stark entwickeln. Ich war auch stets ein Befürworter einer parlamentarischen Entwicklung Russlands.

Aber hätte eine solche Entwicklung im riesigen Vielvölkerreich Russland mit seinen autokratischen Traditionen wirklich funktioniert?

Natürlich, warum denn nicht? Anderswo funktioniert dieses Modell ja auch, auch in Österreich. Damals befürwortete auch ein großer Teil der Intellektuellen in Russland eine echte parlamentarische Entwicklung.

Woran sind diese Pläne letztlich gescheitert?

An den alten Parteikadern der KPdSU. Viele schlugen sich aus Macht- und Geldgier auf die Seite Jelzins und wurden dabei seltsamerweise vom Westen unterstützt. Dort unterstützte man Jelzin vorbehaltlos, unter dem Motto: Er hat die Rückkehr der alten KP-Granden an die Macht verhindert. Das war ein großer Fehler.

Sie selbst waren anfangs ein Anhänger und Parteigänger Jelzins und wurden auch von ihm zum Parlamentspräsidenten gemacht. Wie kam es dann zum Disput?

Das Problem begann bald nach der Auflösung der Sowjetunion. Jelzin begann, seine Kompetenzen, die ihm laut Verfassung zustanden, zu überschreiten. Zum Beispiel hätten Personalbesetzungen in der Regierung mit dem Parlament abgesprochen gehört. Das ist aber nicht geschehen. Jelzin stellte sich über das Parlament, über den Staat. Man darf nicht vergessen: Er war lange Parteichef in Swerdlowsk, dort konnte er seine Entscheidungen im Alleingang treffen. Das wollte er beibehalten. Das Parlament stand dem entgegen. Die Gründe sind also sehr einfach.

Im Westen hat man den Konflikt damals allerdings anders dargestellt: Man sprach vom reformorientierten Jelzin und vom kommunistisch-nationalistisch beherrschten Parlament...

Diese Journalisten haben sich offenbar nicht der Mühe unterzogen, die Ereignisse zu analysieren. Es ist doch absurd, mir eine "rot-braune" Gesinnung zu unterstellen. Meine tschetschenische Familie ist von Stalin verfolgt worden, ich bin in den Wäldern Kasachstans aufgewachsen. Meine Mutter hat mir immer gesagt: Solange Stalin an der Macht ist, werden wir unsere kaukasische Heimat nicht wiedersehen. Ich war Volksschüler, als Stalin starb. Alle in der Klasse haben geweint, ich hingegen habe mich irrsinnig gefreut. Mein Herz sprang fast aus der Brust vor Freude! Ich durfte diese Freude nur nicht offen zeigen. Auch aufgrund dieser Erlebnisse wollte ich als Politiker immer Gerechtigkeit walten lassen. Und jetzt soll ausgerechnet ich ein Nationalkommunist, ein Rot-Brauner sein? Der Einzige, der ein rot-brauner Nationalkommunist gewesen ist, war Jelzin selbst. Sein Team bestand aus Ex-Apparatschiks, die sich um 180 Grad gedreht hatten. Die wollten nur eines: so schnell und so billig wie möglich die Fabriken und die Werke bekommen und die Kontrolle über die Banken. Und das alles, diese Gier nach Mammon verdeckten sie mit den schönen Worten "Demokratie" und "Menschenrechte".

Hatten Sie denn ein besseres Programm aufzuweisen?

Dass sich der Sozialismus diskreditiert hat, war auch uns klar. Ich selbst habe damals für eine "weiche" Form des Kapitalismus für Russland plädiert. Wir wollten bei den schwierigen Wirtschaftsreformen Schritt für Schritt vorgehen. Nicht so, wie es damals Usus war: Man hatte Listen von Bekannten erstellt und gesagt, Peter, du kriegst dieses Werk, und Sergej kriegt das andere Werk. So ist das abgelaufen! Auch die Vita des damaligen Wirtschaftsministers Jegor Gaidar, der die Reformen verantwortete, spricht Bände: Der Mann hatte vorher in der Zeitschrift "Kommunist" gearbeitet und dann im Parteiorgan "Prawda". Ein Mensch ohne wirkliche Arbeitserfahrung, ein Treppenwitz der Geschichte, der sich als großer Reformer aufspielte. Hätte der Westen damals nicht den Putsch Jelzins mitsamt der Zerstörung des Parlaments unterstützt, wäre Russland jetzt eine parlamentarische Demokratie. So gesehen könnte man sagen, der Westen hat das bekommen, was er sich verdient hat. Das Entstehen des Systems Putin ist in den damaligen Ereignissen begründet. Und noch etwas: Wäre das Parlament damals nicht beschossen worden, wäre es auch nicht zum Krieg in Tschetschenien gekommen. Es hätte den ersten Krieg, der 1994 losging, nicht gegeben und auch nicht den zweiten.

Warum?

Weil das Parlament damals die Situation gut kontrolliert hat. Es hätte friedliche Wege zur Lösung des Konfliktes gefunden. Es wäre nicht zu diesen Terroranschlägen gekommen, der politische Islam würde in Tschetschenien nicht diese Rolle spielen, wie er es heute tut. Russland wäre ein friedlicher Staat geworden.

Das klingt aber allzu einfach.

Es ist ja auch einfach. Jelzin hat damals einen Republikschef, der 1991 die Putschisten gegen Gorbatschow unterstützte, wieder eingesetzt, nachdem sich der vor ihm in den Staub geworfen und ihm ewige Treue geschworen hatte. Das hat dazu geführt, die gesamte Bevölkerung Tschetscheniens und Inguschetiens gegen Moskau aufzubringen. Jelzin hat immer Leute bevorzugt, die ihm sklavisch gehorchten. Das ist alles, was Sie über ihn wissen müssen.

Gibt es heute noch irgendeine Chance, aus der verfahrenen Lage in Tschetschenien herauszukommen?

Es sieht ganz schlecht aus, leider. Der Nordkaukasus steckt in einer Abwärtsspirale. Es kam in den letzten 20 Jahren zur vollkommenen Auflösung von Werten und moralischen Prinzipien. Heutzutage gibt es dort keinerlei Respekt vor dem Gesetz oder vor Traditionen - das existiert nicht mehr, es ist verschwunden. Auch die Wirtschaftsstruktur hat sich stark verschlechtert. Im Nordkaukasus besteht keine Industrie. Wir haben es mit einer vollkommenen Deindustrialisierung zu tun. Es gibt auch keine technisch-wissenschaftliche Intelligenz mehr. Die örtlichen Feudalfürsten haben die ganze Macht übertragen bekommen, und ihre ganze Aufgabe ist, das Volk ruhig zu halten und loyal zu Russland. All das hängt mit der Tragödie von 1993 zusammen, die sich heuer zum 20. Mal jährt.

Wissen: Die russische Verfassungskrise 1993

Am 4. Oktober 1993 hallte Geschützfeuer durch Moskau: Mit der Beschießung des "Weißen Hauses", des Parlaments, eskalierte ein Verfassungskonflikt zwischen Präsident Boris Jelzin und dem Obersten Sowjet - dem damaligen, noch zu Sowjetzeiten gewählten russischen Parlament unter Führung von Ruslan Chasbulatow. Die Ereignisse, die sich heuer zum 20. Mal jähren, wurden zum blutigsten Konflikt in der russischen Hauptstadt seit der Oktoberrevolution 1917. Das Blutvergießen stellte Russlands junge, postsowjetische Demokratie auf eine schwere Probe. Mehr als 120 Menschen starben im Zuge der Machtprobe zwischen Jelzin und seinen mehrheitlich nationalkommunistisch ausgerichteten Gegnern. Der vom Volk gewählte Präsident hatte sich mit dem Obersten Sowjet bereits seit 1992 ein erbittertes Kräftemessen geliefert. Jelzin und sein Wirtschaftsreformer Jegor Gaidar hatten zur Überwindung der schweren Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unter dem Einfluss von US-Beratern auf eine liberale "Schocktherapie" gesetzt. Das von nationalkommunistischen Kräften dominierte Parlament suchte diese Reformen nach Kräften zu behindern und stemmte sich gegen Privatisierungen. Im Herbst 1993 eskalierte die Situation: Am 21. September erklärte Jelzin den Obersten Sowjet für aufgelöst und setzte Neuwahlen an, im Gegenzug setzte das Parlament Jelzin ab und machte seinen Stellvertreter, den Nationalkommunisten Alexander Ruzkoj, zum Staatschef. Die Abgeordneten verschanzten sich bewaffnet im Weißen Haus. Am 3. Oktober befahl Ruzkoj seinen Anhängern, die Stadtverwaltung und das Fernsehzentrum Ostankino zu besetzen. Jelzin verhängte den Ausnahmezustand und entschied die Machtprobe am 4. Oktober für sich. Die im Dezember 1993 angenommene Verfassung gab dann dem Präsidenten umfassende Rechte und drängte das Parlament an den Rand des politischen Prozesses.