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Jelzin von Regelung der Nachfolge besessen

Von Jan-Uwe Ronneburger

Politik

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Der unberechenbare Boris Jelzin hat mit der Entlassung seines Ministerpräsidenten Sergej Stepaschin vermutlich die letzten Reste seines Rufs als seriöser Staatsmann aufs Spiel gesetzt.

Kommentatoren in Russland und im Ausland brachten den Vorgang meist auf die einfache Formel, da wolle ein korrupter Kremlherr kurz vor der Entfernung von der Macht den eigenen Kopf ebenso retten wie

die Pfründe seiner Familie und die ihrer Komplizen. Die Nominierung des Chefs des Inlandsgeheimdienstes FSB, Wladimir Putin, für das Amt des Regierungschefs und als Jelzins Erbe im Kreml schien diese

Auffassung zu bestätigen. Übersehen wird dabei jedoch, dass auch Stepaschin zuvor FSB-Chef war.

Gegen den Kreml gab es immer wieder Korruptionsvorwürfe. Jelzins Tochter und Beraterin Tatjana Djatschenko werden beste Kontakte zu dem einflussreichen Unternehmer Boris Beresowski nachgesagt. Der

angebliche Kauf eines teuren Hauses im Westen durch Djatschenko sorgte ebenso für Wirbel wie Beresowskis Beteiligung an einem Unternehmen in der Schweiz, das angeblich Gelder der Fluggesellschaft

Aeroflot veruntreut haben soll. Zuletzt erhob die Schweizer Staatsanwaltschaft auch Korruptionsvorwürfe gegen den Verwalter der Kremlimmobilien, Pawel Borodin.

Was an den Vorwürfen dran ist, wurde wie so oft in Russland nicht aufgeklärt. Das Problem ist jedoch, dass im heutigen Russland "der unbegrenzten Möglichkeiten" sogar fast jeder Dorfvorsteher mit den

oft widersprüchlichen Gesetzen in Konflikt gerät. So sitzen vermutlich auch Jelzins Kritiker nicht selten selbst im Glashaus.

Nicht wenige unterstellen dem 68-jährigen Jelzin, der sich seit nun schon mehr als acht turbulenten Jahren an der Spitze des Riesenreiches hält, schlicht geistige Umnachtung. "Solange Jelzin mit

seinem Familien-Politbüro im Kreml sitzt, wird niemand im Lande arbeiten können", sprach Kommunisten-Chef Gennadi Sjuganow vielen aus dem Herzen. Die Entlassung Stepaschins sei ein Beispiel für

"klinischen Schwachsinn" und die "100-prozentige Agonie des Regimes". Es wäre nicht das erste Mal, dass Sjuganow und andere Jelzin unterschätzen.

Den eigentlichen Beweggrund für Jelzins kurvenreiche Politik sieht die renommierte Tageszeitung "Sewodnja" am Dienstag in der Regelung seiner Nachfolge. "Jelzin kämpft mit allen Mitteln dafür,

selbst einen Nachfolger zu bestimmen", schrieb die Zeitung. So undurchsichtig die von Beziehungen und weniger von Parteien oder gar Überzeugungen geprägte russische Politik auch sein mag, Jelzin

handelt wohl kaum nach dem Prinzip "Nach mir die Sintflut".

"Kann es sein, dass Jelzin wirklich naiv wie ein Kind ist und glaubt, dass sein Schützling ihn und seine Familie nach errungener Präsidentschaft nicht fallen lassen würde und seine Gegner ihn dagegen

verfolgen würden?" fragt "Sewodnja".

Jedem in Russland sei klar, dass die Sicherheit Jelzins und seiner Familie auf jeden Fall garantiert sei und dass der Präsident und die Seinen aber ebenso garantiert die Macht nach der

Präsidentenwahl im Sommer kommenden Jahres verlieren werden. "Angenommen, Jelzin ist es nicht klar und er kämpft vollen Ernstes: Welchen Sinn macht es da, Stepaschin durch Putin zu ersetzen?" fragt

"Sewodnja" weiter.

Die Zeitung sieht in der Entlassung durchaus eine Logik, die sich nicht nur auf den Selbsterhalt Jelzins stützt. Stepaschin sei aus Sicht des Kreml im beginnenden Parlamentswahlkampf zu nachgiebig

gewesen. Vor allem habe er zugelassen, dass die Gouverneure zu dem Bündnis Vaterland · Ganz Russland des mächtigen und ambitionierten Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow überlaufen. Putin müsse nun

Härte zeigen und die Gouverneure auf seine und damit auf Jelzins Linie einschwören. Schafft er das nicht, dürften auch seine Tage bald gezählt sein.