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Jenseits der pandemischen Grabenkämpfe

Von Barbara Beclin und Georg Cavallar

Gastkommentare

Die Corona-Impfdebatte hat zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft beigetragen. Mehr Common Sense und Abwägung sind angebracht.


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Gäbe es Aliens, die sich die unschuldige Frage stellen würden, ob es so etwas wie aufgeklärte Gesellschaften auf diesem Planeten gebe, so müsste die Antwort für Österreich klar ausfallen: Nein, dieses Land ist von einer aufgeklärten Gesellschaft (noch/für ewig) weit entfernt. Das zeigt die aktuelle Corona-Impfdebatte. Statt einer aufgeklärten Debatte - nämlich einer kritischen, selbstkritischen und reflektierten Diskussion, die auch die Perspektiven Andersdenkender einbezieht - gibt es das Übliche: die Moralkeule und die Instrumentalisierungen.

Glaubenskrieg statt Debatteund pandemische Unvernunft

Die Moralkeule wird dann geschwungen, wenn die Impfbefürworter der Gegenseite schlicht Unmoral und mangelnde Solidarität vorwerfen. Manche denken laut darüber nach, ob Impfverweigerer die Krankenkosten selbst tragen sollen. Die Impfdebatte wird von zu vielen Beteiligten instrumentalisiert. Von der Boulevardpresse (die etwa ihre eigene Impfkampagne startet) bis zu Parteien, die die Debatte für den eigenen Stimmenfang benutzen - jenseits der Erkenntnisse der Wissenschaft.

Ohne Zweifel gibt es zu viele Impfgegner in Österreich, die verrückte Verschwörungstheorien vertreten, die Pandemie leugnen, Ergebnisse der Wissenschaft ignorieren oder verfälschen. Sie leugnen einen Teil der Wirklichkeit. Sie faseln von einer Diktatur in Österreich und einer jüdischen Weltverschwörung und halten sich gleichzeitig - bei völliger historischer Ahnungslosigkeit - für die verfolgten Juden der Gegenwart. Sie sind dumm genug, sich von den Rechtsextremen instrumentalisieren zu lassen. Auf diese Gruppe trifft der Satz von Christoph Waltz über die selbsternannten Querdenker zu: Sie denken entlang des Balkens, der sich quer vor ihren Köpfen befindet.

Bedenken gegen neue Impftechnologien

Nicht jede Impfskeptikerin ist jedoch eine Impfgegnerin. Viele aus der Gruppe der Impfskeptiker sehen die nun erstmals in Europa breit eingesetzten Vektor- und mRNA-Impfstoffe als noch zu wenig erforscht an und hoffen daher auf einen Totimpfstoff, wie den von Valneva in Österreich entwickelten. Totimpfstoffe sind altbewährt, kommen gegen Grippe, Tetanus, Polio und vieles mehr zur Anwendung und enthalten im Gegensatz zu den neuen Vakzinen deaktivierte Viren.

Umfragen in Deutschland legen nahe, dass etwa die Hälfte der derzeit Ungeimpften grundsätzlich bereit wäre, sich gegen Covid impfen zu lassen, aber Bedenken gegen die neuen Impfstoffe hat. Da auch diese Menschen eine Möglichkeit haben sollen, sich zu schützen, ist eine möglichst baldige Erweiterung des Angebots um einen Totimpfstoff wünschenswert. Damit ließe sich auch die Impfquote noch einmal erheblich steigern. Die WHO hat vor dem Sommer zwei Totimpfstoffe freigegeben, von denen einer bereits in Ungarn verwendet wird.

Sensibler Umgangmit den Grundrechten

Zu Recht wird ein direkter Zwang zur Impfung in liberalen Rechtsstaaten kategorisch abgelehnt. Daraus folgt aber, dass auch Maßnahmen des indirekten Zwangs nur behutsam und verhältnismäßig gesetzt werden dürfen: Solange noch nicht Wahlfreiheit zwischen neuen und herkömmlich produzierten Impfstoffen in Österreich besteht, erscheint es daher besonders bedenklich, Impfskeptikern mit dem Ausschluss von Leistungen der Arbeitslosen- oder Krankenversicherung zu drohen.

Nicht umsonst sind medizinische Behandlungen generell nur mit Einwilligung des Betroffenen zulässig. Auch Menschen, die aus eigenem Verschulden erkranken, haben einen Anspruch auf medizinische Behandlung. Das gilt für Kettenraucherinnen, Extremsportler oder Alkoholiker genauso wie für Impfverweigerer. Sie alle sind durch einen möglichen Aufenthalt auf der Intensivstation schon gestraft genug.

Österreich agiert wie viele Länder des globalen Nordens nach dem Motto "Mein Land zuerst" - oder, etwas polemischer formuliert, nach dem Prinzip: "Zuerst komm i - und wer dann kummt, kummt nie!" Vom Ziel, wenigstens 20 Prozent der Menschen in ärmeren Ländern zu impfen, ist die WHO weit entfernt. Dabei entstehen neue Varianten von Covid-19 mit hoher Wahrscheinlichkeit gerade in diesen Ländern. An dieser mangelnden globalen Solidarität ist auch unsere Regierung mitbeteiligt, die gerne von eben dieser Solidarität spricht. Das ist erstens widersprüchlich, zweitens unmoralisch - und konterkariert drittens die gesetzten Maßnahmen.

Was wäre eine halbwegs aufgeklärte Debatte? Jenseits von Schwarz-Weiß-Denken, jenseits von Polemiken, jenseits von Wissenschaftsleugnung, jenseits von Schuldzuweisungen. Mit ein bisschen mehr selbstkritischem und widerspruchsfreiem Denken, mit mehr Eingehen auf die Position des Anderen, mit mehr Selberdenken.