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Jenseits von Corona - der neue Boris Johnson

Von Melanie Sully

Gastkommentare
Melanie Sully ist britische Politologin und Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance. Sie hat unter anderem als Konsulentin für die OSZE und den Europarat in Straßburg gearbeitet und ist Mitglied des Royal Institute of International Affairs in London.
© Weingartner

Noch hat der britische Tory-Premier eine Verschnaufpause. Die gilt es zu nutzen.


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Bei seiner Rückkehr in die Downing Street wird Boris Johnson möglicherweise Mark Twain zitieren: "Die Gerüchte über meinen Tod waren stark übertrieben." Doch nachdem er dem Corona-Tod entronnen ist, hat sich Großbritanniens umstrittener Premier fürs Erste verändert. Das großspurige Posing und der leichtfertige Optimismus sind verschwunden. Johnson wirkt übermäßig dankbar, dass er am Leben ist, und gedemütigt durch eine Krankheit, die Chaos in sein Heimatland gebracht hat.

Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU begann Johnson die Puste auszugehen. Details zu Fischfangquoten dürften keinen forschen Politiker beeindrucken, der nach positiven Schlagzeilen sucht. Durch Corona gelangte die Regierung weiter ins Hintertreffen, während sie verzweifelt von Laissez-faire in einen vollständigen Lockdown schlitterte.

Bei der vergangenen Wahl war die Gesundheitspolitik die Achillesferse der Tories, die Labour auszunutzen versuchte. Nun klingt Johnsons Lob für den National Health Service glaubhaft. Der Premier hat die Chance, zu zeigen, dass er ein seriöser, mitfühlender Politiker sein kann. Das Land hat sich inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert. Den Nothaushalt hätte genausogut ein radikaler Sozialist präsentieren können, die Sozialpolitik hat nun oberste Priorität. Sollte ein US-Präsident nur daran denken, den National Health Service bei einem Handelsabkommen auf den Tisch zu legen, könnte er das gleich vergessen. Verhandlungen mit asiatischen Ländern, die infolge des Coronavirus ins Taumeln geraten sind, könnten langsamer vorangehen; Großbritanniens Beziehungen zu China sollen neu überdacht werden.

Mit der EU soll ein Handelsabkommen bis Ende des Jahres ausverhandelt werden. Bis Juni könnten die Briten eine Verlängerung dieser Frist beantragen. Dafür wäre ein Parlamentsbeschluss nötig. Derzeit kommen die Abgeordneten nur vereinzelt nach London, und das Parlament tagt eher virtuell. Das könnte seine Legitimität in wichtigen Fragen verringern.

Die Tory-Partei ist gespalten zwischen jenen, die den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlassen wollen - notfalls auch ohne Deal -, und jenen, die hinsichtlich der wirtschaftlichen Auswirkungen nervös sind. Arbeiter, die sich bei der vergangenen Wahl für die Tories entschieden haben, könnten nächstes Mal zu Labour zurückkehren.

Noch hat Johnson eine Verschnaufpause. Als Folge des Virus wird es in absehbarer Zukunft keine Neuwahlen geben, was bedeutet, dass seine satte Mehrheit im Parlament vorerst sicher ist. Heuer ist auch keine Rede von einem Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands oder von einer Abstimmung über eine irische Vereinigung. Heuer wird es auch keine Wahl für das Amt des Londoner Bürgermeisters geben, bei welcher der Tory-Kandidat eine Niederlage hätte einfahren können.

Das Coronavirus hat Johnson eine neue Vision verpasst: das durch den Brexit zerrissene Land zu vereinen und erneut einen Konsens aufzubauen - den Wohlfahrtsstaat und eine gemischte Wirtschaft mit staatlicher Intervention. Johnson hat die Krankheit überlebt. Sein politisches Überleben muss er noch absichern.