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Mord als beliebteste Nebensache der Welt: Einige Vermutungen darüber, warum so viele Kriminalromane geschrieben - und auch gelesen werden.
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Nicht zufällig gehören Krimis neben Ratgebern zu den meistverkauften Büchern. Wie der Ratgeber, dessen Kauf die reale Lösung eines Problems ersetzen soll, erweist sich auch der Krimi oft als ein Surrogat. Und damit ist nicht das oberflächlich-kritische Urteil gemeint, Krimis seien, da ihnen das Hohe der "echten" Literatur fehle, bloß beschriebenes Papier. Literaturersatz eben. Nein, die Ersatzfunktion des Krimis ist vielschichtiger.

Den Leser von Kriminalgeschichten würde eine tiefe existenzielle Angst plagen, die er gern gegen den harmlosen Schauer des fiktiven Mordes tauscht, vermutete etwa Walter Benjamin. Das funktioniert in der Tat erstaunlich gut, zumindest für Augenblicke. Eingefleischte Krimifans nennen dieses Gefühl, das einen alles rundherum vergessen lässt, Spannung.
Trend Regionalkrimi
Doch man muss dem Krimi gar nicht so existenziell beizukommen trachen wie der Philosoph Benjamin. Oft genug befriedigt der Kriminalroman durch und durch alltägliche Gelüste. Venedig mit Donna Leon, Triest mit Veit Heinichen, Südfrankreich mit Martin Walker: Der Trend zum Regionalkrimi verschafft Autoren die Möglichkeit, dem Leser außer einer schönen Leiche auch bequem konsumierbares Sachwissen als Mehrwert anzubieten. Zum Beispiel durch detailgetreue Beschreibung von Landschaften und deren Sehenswürdigkeiten.
Wer das mag, dem kann der Krimi einen Reiseführer ersetzen. Und tatsächlich gibt es nicht wenige Leser, welche die Abenteuer ihres Lieblingskommissars mit dem Stadtplan in der Hand verfolgen und dabei den nächsten Urlaubstrip planen.
Auch im wörtlichen Sinn funktioniert der Krimi oft genug als Appetitanreger - wenn auch oft mit einer makabren Note: Ein blutüberströmter Menschenkopf in Kapitel eins, ein Rezept für Sauschädel zehn Seiten später. Vormittags lotet die von Gabriella Genisi erfundene adrett-freche Kommissarin Lolita Lobosco die Abgründe des Todes aus, nachmittags schwingt sie so freudvoll den Kochlöffel, dass einem das Wasser im Mund zusammenrinnt.
Wer will, kann die Kombination von Tod und Nahrungsaufnahme freilich auch als eine anthropologische Konstante interpretieren - sie gibt es schließlich auch beim ganz und gar nicht fiktiven Leichenschmaus. Oder aber als Auflehnung gegen eine gesundheitliche Correctness, die uns alles verbieten möchte, was mehr als drei Prozent Fett hat. So beantwortet jedenfalls die Bachmannpreis-Jurorin Daniela Strigl die Frage, warum in Krimis so viel gegessen und getrunken wird. Für sie ist die Völlerei eine Reaktion auf eine zunehmend hedonismusfeindliche Welt. Der Krimi als Kaviarersatz sozusagen.
Doch bisweilen ist der Krimi deutlich mehr - vor allem für seinen Autor. Georges Simenon, dieser unstete, von Rastlosigkeit, wechselnden Liebschaften und einem zunehmenden Gefühl der Entfremdung geplagte Autor, hat Kommissar Maigret nicht zufällig als einen Mann konzipiert, dessen Privatleben in Bahnen verläuft, die geordneter nicht sein könnten: mit Frau Maigret an seiner Seite und einer "Wohnung, wo alle Möbel und Gegenstände an ihrem Platz standen". Die Welt des fiktiven Kommissars als Gegenentwurf zum Leben des real existierenden Autors.
Hingewiesen auf diesen Ersatzcharakter des Kriminalromans, hat übrigens jemand, von dem man Beschäftigung mit Krimis nicht unbedingt erwarten würde: Ernest Mandel, Ökonomieprofessor, trotzkistischer Revolutionär, jahrelang einer der führenden Köpfe der sogenannten IV. Internationale und nebenbei Autor einer Sozialgeschichte des Krimis.
Wobei Mandel, so skeptisch er zeitgeistigen Trends auch gegenübergestanden ist, in diesem Fall selbst Teil eines Trends war. Denn wie der proletarische Fußball ist auch der nach Groschenromanen riechende Krimi zum beliebten Hobbyobjekt von Intellektuellen geworden. Bis heute sollte man daher besonders in hyperreflektierten Kreisen auf die Frage vorbereitet sein, welchen Lieblingskommissar man habe. Aber bitte nicht einfach Wallander antworten. Ein bisschen ausgefallener sollte es schon sein.
Wie beim Fußball dürfte es auch beim Krimi um die - nein, Ernst Jünger wird jetzt nicht zitiert - Faszination des Schreibtischmenschen am Animalischen, Aggressiven gehen, um Beschäftigung mit Blut, abgetrennten Körperteilen. Vielleicht trägt gerade deshalb jeder zweite Journalist und jeder vierte Universitätsprofessor den Keim eines nicht fertig geschriebenen Krimis wenn schon nicht auf seinem Laptop, so zumindest in seinem Kopf mit sich herum. Denn der Krimi ist Aggressionsersatz: für den Leser wie für den Autor.
Von Donna Leon ist jedenfalls überliefert, dass sie zumindest einen ihrer Krimis nur deshalb geschrieben hat, weil sie eine ungeliebte Nachbarin "umbringen musste". Dass sich Schriftsteller mit ihren Figuren stärker identifizieren als das die Literaturtheorie zulassen möchte, ist übrigens spätestens seit Gustave Flaubert und Madame Bovary belegt.
Orhan Pamuk - auch er ein begeisterter Krimi-Konsument - hat der "New York Times" unlängst gestanden, dass ihn lange Zeit ein schlechtes Gewissen geplagt habe, wenn er wieder einmal zu einem Krimi gegriffen hatte. Bis er, Patricia Highsmith in der Hand, plötzlich eine Erleuchtung hatte: Es ist gar nicht die Lust am Schund, die ihn immer wieder in die Welt der Kommissare, Detektive und Geheimagenten treibt, es ist die Identifikation mit dem Mörder.
Wohliger Schrecken
Ernest Mandel, als Ökonomieprofessor mit Zahlen schnell zur Hand, hat in seiner Sozialgeschichte des Krimis, die er unter dem Titel "Ein schöner Mord" veröffentlichte, die etwas tollkühne Rechnung angestellt, ein durchschnittlicher Krimifan würde im Laufe seiner Lesekarriere auf fünfhundert bis tausend Morde kommen. Was Mandel zu der nicht ganz unberechtigten Frage geführt hat: Warum ausgerechnet eine Literaturgattung so beliebt ist, die das schlimmste Verbrechen, das Menschen einander antun können, zum Unterhaltungsprogramm erhebt!

Eine mögliche Antwort wäre: Weil der Mord im Krimi Nebensache ist. Weil er bloß eine blutleere Textsortenvorgabe ist. Weil er literarisch so konventionalisiert ist, dass er dem Leser bestenfalls einen wohligen Schrecken einjagt, ihn aber kaum weiter berührt. Das mutmaßte jedenfalls der Philosoph Ernst Bloch und sah den typischen Krimileser als einen Mann, der sich "im bequemen Sessel, unter der abendlichen Stehlampe ruhevoll in gefährliche Dinge vertieft, die flach sind".
Heute müsste Bloch allerdings eher eine Frau als Beispiel nehmen. Denn laut einer Umfrage des deutschen Buchhandels haben Frauen die Männer als Krimileser längst überholt - und dabei eine Vorliebe für Themen mit explizitem Alltagsbezug erkennen lassen.
Missstände der Welt
Da Mord aber zum Glück nicht alltäglich ist, der Krimi ihn aber dennoch braucht, gerät der Tod in sehr vielen Texten zu einem bloßen "Sprungbrett" für eine Gebrauchsliteratur, die als brave Dienerin ihrer Leser die unterschiedlichsten Bedürfnisse bedient: von italophiler Kochbegeisterung, über Interesse an Weltpolitik und Flugzeugentführungen bis hin zu populärwissenschaftlichen Exkursen in Chemie, Parapsychologie und Gartenkunde - samt einem peniblen Psychogramm des jeweiligen Kommissars oder der jeweiligen Kommissarin. Brutale Action wird mancherorts natürlich auch noch geliefert. Doch wer es richtig grauslich mag, greift heute eher zum Super-Schocker als zum Krimi. Oder gleich zur DVD.
In der jüngsten Entwicklung des Genres ist außerdem eine fast unüberschaubare Anzahl an Büchern erschienen, die als Anklage gegen alle Missstände auf dieser Welt gelesen werden können: Börsenspekulation, Frauenhandel, Kindersoldaten - nichts fehlt, worüber man sich Sorgen machen kann. Was freilich oft in nur notdürftig als Belletristik kaschierte Publizistik mündet. Wo das nicht passiert, entspricht die Moral aus der Geschichte meistens dennoch dem gerade mehrheitlich akzeptierten Erklärungsmuster.
Nicht zufällig steht bei den Klassikern der Krimiliteratur noch der Einzeltäter im Vordergrund, der aus persönlichen Motiven einen Mord begeht - und danach von einem einzelnen Detektiv überführt wird. Als Agatha Christie und Sir Arthur Conan Doyle solche Romane schrieben, glaubte man noch an eine klare Trennung von Gut und Böse. Und an die Erklärung, dass das Böse individuell sei. Dementsprechend war auch der gängige Schluss der Geschichte: Täter gefasst, Pro-blem gelöst.
Spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist eine solche Auflösung unbrauchbar geworden. Nach Auschwitz einerseits und in einer industrialisierten Welt andererseits wurde es zum gesellschaftlich allgemein akzeptierten Wissen, dass das Böse organisiert agieren kann. Zwar treten auch in den Krimis der Nachkriegszeit Individuen als Stellvertreter von Gut und Böse auf, sie stehen jedoch nicht mehr isoliert da. Der Kommissar arbeitet nun vor dem Hintergrund eines ganzen Polizeiapparats, und der Täter ist nicht selten in weitreichende Machenschaften verwickelt, Geheimdienste und Mafia eingeschlossen. Doch immer noch siegt Recht über Unrecht. Die Handschellen klicken.
Bis vor Kurzem jedenfalls. Seit einigen Jahren häufen sich Krimis, in denen der Kommissar die Verbrecher nicht mehr wirklich stellen kann. Entweder weil sie, was Donna Leons Brunetti immer wieder passiert, politischen Schutz von oben genießen, oder weil sie, woran Andrea Camilleris Montalbano leidet, nur an die kleinen Fische heranommen - aber nie an die großen.
Allgemeiner Befund
Auch diese Wende erfüllt die Erwartungen des Lesers. Sie deckt sich mit dem heute allgemein anerkannten, latent populistischen Erklärungsmuster, wonach alles Böse daher kommt, weil Geld die Welt regiert, man die Kleinen schikaniert, während es sich "die da oben" richten können und Politiker zwangsläufig korrupt sind.
Ist zwar irgendwie wahr, jedoch der kleinste aller gemeinsamen Nenner: ein Befund, der am Ende niemandem wehtut, weil ihn ohnehin alle unterschreiben können. Auch darin ist Krimi-Literatur eben eine Literatur, welche die Lesererwartungen treu erfüllt, sie aber kaum einmal hinterfragt, geschweige denn unterläuft.
Eine "Axt für das gefrorene Meer in uns" (Kafka) sind Krimis daher nur selten. Eher schon Beruhigungspillen, die vorgeben, ein Aufputschmittel zu sein. Wir dürfen sie trotzdem nehmen. Auch wenn sie uns süchtig machen.
Piotr Dobrowolski, geboren 1965, war u.a. Außenpolitik-Chef bei "Format" und Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Frontal" und ist nun freier Journalist.