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"Jerusalem des Westens"

Von Oliver Bentz

Reflexionen
Die historische Mikwe, das rituelle jüdische Bad, in Speyer.
© Foto: Bentz

Mainz, Speyer und Worms waren im Mittelalter bedeutende geistige Zentren des jüdischen Lebens. Diese reiche Vergangenheit wollen die drei Städte am Rhein jetzt zum Weltkulturerbe erklären lassen.


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Seit dem Hochmittelalter sind die Städte Mainz, Speyer und Worms unter dem Akronym SCHUM in der jüdischen Welt als Zentren jüdischen Lebens und jüdischer Gelehrsamkeit bekannt. Der Begriff "SCHUM" wurde aus den Anfangsbuchstaben der hebräischen Ortsnamen Schpira, Warmaisa und Magenza destilliert - "Schin" für Schpira, "Waw" (= U) für Warmaisa und "Mem" für Magenza. Diese drei mittelrheinischen Kommunen brachten bedeutende jüdische Gelehrte und Wissenschafter hervor und haben für das aschkenasische Judentum - so die Bezeichnung für die Juden, die sich am Rhein ansiedelten - bis heute einen einzigartigen Rang. Für die europäischen Juden im ausgehenden Mittelalter war der "jüdische Städtebund" von Mainz, Speyer und Worms das "Jerusalem des Westens" oder das "Jerusalem am Rhein". Historikern gilt er heute als Geburtsstätte der aschkenasischen Kultur.

Bedeutende Zeugnisse wie die Synagoge und der Jüdische Friedhof in Worms oder der Judenhof mit den Resten der Synagoge und dem mittelalterlichen Ritualbad in Speyer bezeugen noch heute diese große jüdische Vergangenheit, deren man sich in den letzten beiden Jahrzehnten in den Domstädten am Rhein wieder intensiv zu erinnern begann. Als Höhepunkt dieser Erinnerungsarbeit wurde jetzt der gemeinsame Antrag an die Unesco gestellt, das jüdische Erbe der SCHUM-Städte als Weltkulturerbe anzuerkennen.

Gelehrte und Kaufleute

Die Gelehrten der SCHUM-Städte und ihre Talmudschulen, in denen die Grundlagen des jüdischen Lebens nördlich der Alpen entstanden, zogen Lernende aus der ganzen jüdischen Welt an. Kulturelle Lebensformen aus Babylonien, Palästina, dem westlichen Mittelmeerraum und aus Nordfrankreich wurden hier verknüpft und weiterentwickelt. Als aschkenasische Tradition breiteten sich die Lehren seit dem späten Mittelalter besonders nach Osteuropa aus und wirken bis heute im Judentum weltweit fort.

Ein berühmter Gelehrter aus dem SCHUM-Gebiet ist der Rabbi Shlomo Ben Jitzhak oder "Raschi", wie ihn die Juden nennen. Er studierte viele Jahre in den bedeutenden Schulen von Mainz und Worms und sollte der wichtigste Kommentator der hebräischen Bibel und des Talmud werden.

In Speyer konnte sich gegen Ende des 11. Jahrhunderts mit der Unterstützung des Speyerer Bischofs Rüdiger Huzmann, der etwa in Mainz verfolgte Juden einlud, sich in Speyer niederzulassen und dies damit begründete, dass die Anwesenheit der Juden "tausendfach das Ansehen der Stadt erhöhe", eine bedeutende jüdische Gemeinde etablieren. Die ersten jüdischen Fernkaufleute und Bankiers, die sich, aus Frankreich und Italien kommend, im Laufe des 11. Jahrhunderts in Speyer niedergelassen hatten, wurden vom Bischof und von Kaiser Heinrich IV. 1084 und 1090 mit weitgehenden Privilegien ausgestattet - darunter das Recht auf Selbstverwaltung und freien Handel. So erhielten sie eine rechtlich bessere Stellung als der Großteil der christlichen Bevölkerung.

Die christliche Kirchenführung bewahrte die Speyerer Juden 1096 auch vor den Pogromen, die in Folge eines Kreuzzuges das Land - auch Worms und Mainz - erfassten.

Die Juden, die in Speyer ansässig waren, gehörten wie jene in Worms und Mainz international verzweigten Familien an, die über die Landbrücken der iberischen und italienischen Halbinseln rege Kontakte mit dem islamischen Orient pflegten und das Abendland mit Luxusgütern von dort versorgten. Im Gegensatz zur christlichen Mehrheit der Bevölkerung in Speyer, Worms oder Mainz konnten die zu jener Zeit hier wohnenden Juden fast alle lesen und schreiben und beherrschten Fremdsprachen. Als die "Weisen von Speyer" gelangten hier wirkende Religionsgelehrte mit ihren religiösen Schriften und liturgischen Texten in Mitteleuropa zu großem Ansehen. Auf einer Versammlung 1146 in Troyes wurde den Rabbinern der SCHUM-Städte höchste Autorität in religiös-kultischen und rechtlichen Fragen zugestanden.

Pest und Verfolgung

Erst im 14. Jahrhundert endete diese führende Rolle der Gelehrten der SCHUM-Städte durch die aufgrund der Pestepidemie der Jahre 1348-1350 ausgelösten Judenverfolgungen. Als im Spätmittelalter dann das über längere Zeiträume immer wieder friedliche Zusammenleben der verschiedenen Glaubensrichtungen durch wiederholte Pogrome gegen die Juden beendet wurde, flohen die Juden aus Speyer ebenso wie auch aus den anderen Städten am Rhein. Ihr Hab und Gut mussten sie meist zurücklassen und oft konnten sie von Glück sagen, wenn sie nur ihre bloße Haut retten konnten.

Vor allem in Speyer und Worms lassen sich heute noch bedeutende Zeugnisse des einst blühenden jüdischen Lebens besichtigen, das gerade auch im Austausch mit der christlichen Kultur der drei rheinischen Bischofsstädte in den SCHUM-Gemeinden seinen eigenen Charakter fand. So erhielt sich in Speyer bis heute das eindrucksvolle jüdische Ritualbad, die Mikwe, die zum ersten Mal 1128 erwähnt wurde. Es ist die älteste der noch erhaltenen monumentalen Mikwen nördlich der Alpen. Die Speyerer Anlage diente vielen Ritualbädern als Vorbild, so auch dem 1185/86 errichteten, etwas kleineren Bad in der Nachbargemeinde Worms. Die Speyerer Mikwe wurde gleichzeitig mit der Synagoge auf dem Areal des so genannten "Judenhofes" gebaut.

Während sich von dem Gotteshaus nur einige Mauerreste erhalten haben, kann der Besucher auch in unseren Tagen noch durch ein tonnengewölbtes Treppenhaus zum 10 Meter tief gelegenen Badeschacht mit seinem Kreuzgratgewölbe hinabsteigen, in dem über Jahrhunderte die nach den mosaischen Gesetzen vorgeschriebene kultische Reinigung durch Untertauchen in kaltes "natürliches" Wasser vorgenommen wurde. Bis zur Vertreibung der Juden im Jahre 1534 wurde die im romanischen Stil errichtete Anlage genutzt.

In Worms kann bei einem Rundgang durch die Innenstadt noch heute ein guter städtebaulicher Eindruck des ehemaligen Judenviertels gewonnen werden. Synagoge (Männer- und Frauenbau) und Ritualbad waren im Mittelalter das Zentrum des lange Jahrhunderte blühenden jüdischen Lebens in der Stadt. In den Jahren der Nazi-Herrschaft niedergebrannt und abgerissen, wurde die Synagoge - teilweise mit mittelalterlichen Originalbauteilen - historisch rekonstruiert und im Jahr 1961 neu geweiht.

Wie durch ein Wunder alle unruhigen Zeiten der Bedrohungen und Zerstörungen überdauert hat der "Heilige Sand" in Worms, der älteste erhaltene jüdische Friedhof in Europa. Diese letzte Ruhestätte wurde auf dem heute so verwunschen daliegenden Areal im Südwesten vor den mittelalterlichen Mauern der Stadt etwa zur Zeit der Einweihung der ersten Wormser Synagoge um das Jahr 1034 angelegt. Sie entsprach den religiösen Vorschriften, nach denen Friedhöfe außerhalb der Siedlungen liegen müssen.

Auf diesem Friedhof, dessen ältester datierter Grabstein der des Jakob ha-bachur aus dem Jahr 1076 ist, finden sich etwa 2500 Grabstellen aus der Zeit vom 11. bis ins 20. Jahrhundert. Aus der Blütezeit der Wormser jüdischen Gemeinde im 11. und 12. Jahrhundert sind noch etwa 70 Grabsteine zu sehen. Diese Gräber machen Worms ebenso wie die Ruhestätten berühmter Rabbiner im so genannten "Rabbinental" des Friedhofs bis heute zum Anziehungspunkt für jüdische Besucher aus aller Welt.

Die neue Synagoge

Mit nur wenig umfangreichen bis heute überlieferten baulichen Überresten aus ihrer reichen jüdischen Vergangenheit kann nach Feuer- und Kriegszerstörungen die Stadt Mainz aufwarten. Immerhin gibt es in der Stadt, die bis zum 11. Jahrhundert eine der ältesten und bedeutendsten jüdischen Gemeinden Mitteleuropas beherbergte, die ältesten erhaltenen jüdischen Grabsteine nördlich der Alpen. Als ein Beispiel herausragender moderner jüdischer Sakralarchitektur gilt die im Jahr 2010 in Mainz eingeweihte neue Synagoge.

Über das Kultusministerium des deutschen Bundeslandes Rheinland-Pfalz, in dem Mainz, Speyer und Worms liegen, haben die drei SCHUM-Städte im Herbst 2012 ihre gemeinsame Bewerbung um die Aufnahme in das Unesco-Weltkulturerbe auf den Weg gebracht. Ob ihrem Antrag Erfolg beschieden ist, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Zunächst muss die Aufnahme in die deutsche Vorschlagsliste für die Unesco geschafft werden. Gelingt dies, wird die Unesco voraussichtlich im Jahr 2017 über den Antrag entscheiden.

Oliver Bentz, geboren 1969, lebt als Germanist, Kulturpublizist und Ausstellungskurator in Speyer. Er schreibt regelmäßig Kulturberichte für das "extra".

Die drei "SCHUM-Städte"
An das reiche kulturelle jüdische Erbe der SCHUM-Städte erinnern das 1982 im "Raschi-Haus", inmitten des einstigen Judenviertels, eingerichtete Jüdische Museum Worms und das 2010 im Ensemble des Judenhofes eröffnete Museum SCHPIRA in Speyer. Im Stadthistorischen Museum in Mainz thematisiert die Dauerausstellung: "Magenza – 1000 Jahre jüdisches Mainz" die wechselvolle jüdische Geschichte der Stadt.
Einen ersten Überblick über die Geschichte der Städte gibt das reich bebilderte Heft "Die SCHUM-Städte am Rhein", herausgegeben von der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Verlag Schnell und Steiner, Regensburg, 41 Seiten, 5,– Euro. Ausführlich behandelt das Thema der von der Generaldirektion "Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz" im selben Verlag neu herausgegebene Band "Die SCHUM-Gemeinden Speyer – Worms – Mainz. Auf dem Weg zum Welterbe", 480 Seiten, 49,95 Euro.
Vom 1. bis 3. Oktober 2013 findet in Worms die Tagung "Das kulturelle Profil der SCHUM-Gemeinden Literatur – Musik – Theater" statt. Genaueres unter www.worms.de.