Marcus Bachmann von "Ärzte ohne Grenzen" über die katastrophale humanitäre Lage in Libyen und die schwierige Situation der Flüchtlinge.
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"Wiener Zeitung": Bei der Libyen-Konferenz am Sonntag in Berlin hat man sich auf eine Waffenruhe verständigt. Damit gibt es zumindest wieder einen Funken Hoffnung für das von Kämpfen erschütterte Land. "Ärzte ohne Grenzen" ist in Libyen aktiv. Wie sieht die humanitäre Lage dort aus?
Marcus Bachmann: Die Situation hat sich in den letzten Wochen dramatisch verschlechtert. Am schwersten betroffen vom Krieg sind die ausländischen Flüchtlinge, die in den Lagern festsitzen. Sie geraten teilweise zwischen die Frontlinien und können von den Haftanstalten auch dann nicht weg, wenn diese bombardiert werden. Auch die Versorgungslage ist katastrophal, es fehlt oft am Essenziellsten, wie etwa dem Zugang zu Wasser und Lebensmitteln. Wenn die Kämpfe besonders intensiv werden, werden die Flüchtlinge teilweise tagelang überhaupt nicht versorgt.
Haben sie denn Zugang zu diesen Lagern?
Nicht immer. Auch diesbezüglich hat sich die Lage in den letzten Wochen und Monaten wesentlich verschärft. Die libyschen Lager zählen zu den schlimmsten der Welt. Die EU, die mit der libyschen Küstenwache zusammenarbeitet, trägt eine Mitverantwortung dafür, dass die Menschen, die von der Küstenwache abgefangen und zurückgebracht werden, in libyschen Haftanstalten enden.
Die von der offiziell anerkannten Regierung von Fayez al-Sarradsch betrieben werden?
Genau, von einer Unterabteilung des Innenministeriums. Neben diesen quasi "offiziellen" Haftanstalten gibt es noch weitere Lager, die von verschiedenen Milizen betrieben werden. Menschen werden gekidnappt, landen dort und können oft nur gegen Lösegeldforderungen, wenn sie Glück haben, entkommen.
Passiert in den Gebieten, die General Khalifa Haftar kontrolliert, eigentlich dasselbe?
Soweit unsere Teams das feststellen konnten, hat sich an dieser Praxis auch unter Haftar substanziell nicht viel geändert. Die Migranten sind in Libyen enormen Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Ermordung ausgesetzt. Von einem "sicheren Land" für Flüchtlinge kann keine Rede sein. Bei uns wird immer wieder vom sogenannten "Pull-Faktor" gesprochen, der die Flüchtlinge nach Europa aufbrechen lasse - also davon, dass Europa Anreize für Migration setzt, etwa über den Sozialstaat. Da sollte man schon klar sagen: "Push-Faktoren" spielen da eine wesentlich größere Rolle. Die über 1100 Menschen, die vergangene Woche aus Libyen mit Booten übers Mittelmeer geflohen sind, sind Menschen, die keine andere Wahl hatten. Die Eskalation der Kämpfe in und um Tripolis hat sie aufs Meer getrieben.
Fliehen eigentlich nur Migranten aus anderen Ländern übers Meer, oder auch Libyer selbst?
Bis vor Kurzem waren auf den Booten nur in Ausnahmefällen Libyer zu finden. Jetzt sind sie auch dabei. Über 10.000 Menschen haben allein seit Jahresbeginn durch die Kämpfe rund um Tripolis ihr Zuhause verloren. Es gibt jetzt über 150.000 Binnenvertriebene. Diesen Menschen geht es natürlich sehr schlecht, aber immer noch ein wenig besser als den Migranten - sie können bei Verwandten Unterschlupf finden. Aber es gibt auch hier verletzliche Gruppen, zum Beispiel Frauen, die in keinem Familienverband integriert sind. Die sind jetzt besonders gefährdet. Es braucht jetzt dringend Zugang für Hilfskräfte und im Idealfall humanitäre Korridore, wo Menschen aus diesen Haftanstalten in Sicherheit gebracht werden können.
Nun ist die Bereitschaft, Migranten aus Afrika und dem islamischen Raum aufzunehmen, in Europa seit der Flüchtlingskrise stark zurückgegangen. Wenn nun Libyen aufgrund der prekären Lage in den Lagern kein sicheres Land ist: Müsste man dann nicht eventuell über einen Militäreinsatz nachdenken, über EU-betriebene Flüchtlingslager in Libyen?
Ich habe noch nie erlebt, dass ein Konflikt gelöst werden konnte, indem zusätzliche Konfliktparteien eingegriffen haben. Auch in Libyen könnte der regionale Konflikt durch das Eingreifen von außen verkompliziert werden. Mit Waffengewalt wird man die Situation nicht in den Griff bekommen. Und was EU-Lager betrifft: Wir sehen auf den griechischen Inseln, wohin es führt, wenn Menschen eingeschlossen werden. Internierung kann nie eine Lösung sein, schon gar nicht in einem Land wie Libyen.
Zur Person~