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Mit einem Lichtermeer aus hunderttausenden Taschenlampen protestieren Rumänen gegen Korruption.
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Bukarest. Tausende Demonstranten beteten das Vaterunser im Chor, Zehntausende sangen die Nationalhymne. In Ploiesti, 60 Kilometer nördlich von Bukarest, sind sie sogar vor dem Sitz des Ortsverbands der regierenden Sozialdemokraten (PSD) niedergekniet, um den Rücktritt der nunmehr definitiv kompromittierten sozialliberalen Regierung zu erflehen. Einen derartigen Massenprotest hat Rumänien noch nie erlebt: mindestens eine halbe Million Demonstranten landesweit, davon etwa die Hälfte in der Hauptstadt. Ein Lichtermeer aus hunderttausenden Taschenlampen und Handy-Bildschirmen leuchtete am Sonntagabend auf dem Platz vor dem Regierungssitz in Bukarest. Vorsichtshalber hatte die Metro ihre Station am Protestplatz geschlossen, um Gedränge oder sogar Massenpanik in den Unterführungen zu vermeiden.
Der wohl überwiegende Teil dieser Menschen war 1989, als der kommunistische Diktator Nicolae Ceausescu gestürzt wurde, kaum erst oder noch gar nicht geboren. Damals war ein blutiger Volksaufstand vorausgegangen, heute war der Protest ein friedliches Fest des Lichts und der humorvollen Schmähsprüche auf den Protesttafeln - mit deutlich mehr Straßendemonstranten als vor 27 Jahren. Den Ministerpräsidenten Sorin Grindeanu (PSD) ließ all dies offenbar kalt. Am Tag danach signalisierte er in keiner Weise, dass ihn dieser beispiellose Protest beeindruckt hätte.
Die Forderung der Demonstranten: Diese Regierung möge verschwinden, nachdem sie sich als Verein zum Schutz der Korrupten entlarvt hat - durch eine Eilverordnung, die die Justiz bei der Verfolgung von Korruption behindert und insbesondere den unter Strafverfolgung stehenden PSD-Vorsitzenden Liviu Dragnea begünstigt. Sie sah vor, dass Amtsmissbrauch nur noch dann strafrechtlich verfolgt wird, wenn die Schadenssumme mindestens 200.000 Lei (rund 45.000 Euro) beträgt. Diese Regelung begünstigte den Vorsitzenden der regierenden Sozialdemokraten (PSD), Liviu Dragnea, der wegen Anstiftung zum Amtsmissbrauch mit einem Schaden von 100.000 Lei vor Gericht steht.
Es beeindruckte keinen Demonstranten, dass Grindeanu gerade einen Rückzieher gemacht und diese Verordnung zurückgenommen hatte. Im Gegenteil, der Protest schwoll noch mehr an. Ironie der Geschichte: Hunderte junge Leute kamen aus der Provinz nach Bukarest und nutzten dabei eine andere Eilverordnung dieser Regierung: Studenten dürfen in Rumänien kostenlos Eisenbahn fahren.
Unter dem Druck der schon seit Tagen andauernden Massenproteste hatte Grindeanu eilig am Sonntagnachmittag sein Kabinett zu einer Sitzung zusammengetrommelt, bei der die Skandal-Verordnung aufgehoben wurde. Keine Stunde nach Beginn der Sitzung war dieser Beschluss vollzogen, Minuten später ließ Grindeanu ihn auch schon im Gesetzblatt veröffentlichen. Sein völlig illusorisches Ziel war es, damit die Massenproteste zu beenden, um endlich Ruhe zu haben.
Das ging gründlich schief. Denn Grindeanu sieht keinen Grund für seinen Rücktritt. Er feuerte noch nicht einmal den Justizminister Florin Iordache, dem er am Tag vorher noch Versagen bei der öffentlichen Kommunikation im Zusammenhang mit der Korruptionsverordnung vorgeworfen hatte. Kein Anzeichen gab es auch, dass Grindeanu, Dragnea oder Iordache den fundamentalen Fehler dieses Dekrets erkannt hätten, den Angriff auf den Rechtsstaat in Inhalt und Form.
Kritik an Grindeanu
Alles nur ein Kommunikationsproblem, aus der Sicht der PSD? Nein, nicht aus Sicht der ganzen PSD, denn die interne Kritik an Grindeanu mehrt sich. Vorläufig sind es nur Kritiker aus der Provinz - zwar gewichtige Stimmen, wie etwa der PSD-Vizepräsident Mihai Chirica. Als Bürgermeister der nordostrumänischen Stadt Iasi vertritt Chirica zudem eine der langjährigen Hochburgen der PSD in der Region Moldau. Vorerst reicht dies aber nicht aus, um Grindeanu im Parlament zu stürzen, denn die PSD-Fraktion und jene des kleinen liberalen Koalitionspartners Alde dürften ihm treu bleiben. Deshalb dürfte Grindeanu auch den am Montag eingebrachten Misstrauensantrag der bürgerlichen Oppositionsparteien PNL und USR problemlos überstehen. Klar ist aber, dass die Lösung dieser Krise, wenn überhaupt, nur von der PSD selbst kommen kann. Denn die Oppositionsparteien sind zu schwach und unglaubwürdig.
Kluge Kommentatoren aus den Medien, wie etwa Ioana Ene Dogioiu vom Portal ziare.com, rieten deshalb den Demonstranten dringend davon ab, Neuwahlen zu verlangen. Denn diese würde wieder die PSD gewinnen, wie zuletzt am 11. Dezember 2016. PSD profitierte damals davon, dass ihre Gegner zu Hause geblieben waren. Die Wahlbeteiligung lag bei nur 39,49 Prozent. Viele dieser damaligen Wahlverweigerer sind aber jetzt auf die Straße gegangen. Oppositionspolitiker ließen sich bei den Massenprotesten kaum blicken - wohl aus Vorsicht: Man hätte sie dort kaum gerne gesehen. "Wir haben keine Politiker und keine Parteien" - so brachte der liberale rumänische Kulturphilosoph Andrei Plesu das Problem in der Zeitung "Adevarul" auf den Punkt.
Kein Ende der Krise
Am Montag zeichnete sich keinerlei Ende der Krise ab. Für den Abend und für die nächsten Tage wurden weitere Proteste angekündigt - in sozialen Netzwerken, denn eine zentrale Organisation war nicht erkennbar, ebenso wenig wie eine Anführer-Persönlichkeit. Der PSD-Vorsitzende Dragnea schwadronierte von drohenden Gegendemonstrationen der PSD, die er nicht wünsche, sondern befürchte. "Es herrscht große Unruhe in der PSD", die Aktivisten an der Basis seien wütend, dass man in Sachen Eilverordnung nachgegeben habe und "kaum noch im Zaum zu halten", klagte Dragnea scheinheilig. Der drohende "Bürgerkrieg" beschränkte sich bisher auf zornige Demos von mehreren hundert älteren, ärmlich gekleideten Menschen vor dem Präsidentenpalast in Bukarest - glühende Anhänger der PSD und erbitterte Feinde des bürgerlichen Staatspräsidenten Klaus Iohannis.
Der Staatschef hatte massiv Druck auf die Regierung zur Rücknahme der Korruptionsverordnung gemacht - unter anderem mit einer Verfassungsklage. Die Demonstranten vor seinem Amtssitz warfen ihm vor, das Land "gespalten" zu haben - und wiederholten damit einen Vorwurf Dragneas. Wie gewöhnlich war auch die in diesen Kreisen übliche Verschwörungstheorie dabei, wonach die Proteste vom US-Milliardär George Soros finanziert worden wären. Auch Dragnea sagte, der "verantwortungslose" Iohannis habe die "von Soros inspirierten" Demonstrationen befeuert.
Jetzt steht Rumänien vor weiteren Schlachten im Krieg zwischen Staatschef und Regierung. Dragnea, dessen Probleme mit der Justiz Hintergrund der ganzen Krise sind, will anscheinend keinen Millimeter von seinem Ziel abrücken, Ministerpräsident zu werden, weil ihm dies als PSD-Chef zustehe. Momentan darf Dragnea aber laut Gesetz kein Regierungsamt bekleiden, weil er vorbestraft ist. Um dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen, will er sich vor Gericht als unbescholten erklären lassen. Dazu legte er wegen eines angeblichen Formfehlers Widerspruch gegen das rechtskräftige Urteil des obersten Gerichts vom Mai 2016 ein - unter Berufung auf einen Formfehler: Er habe die schriftliche Urteilsbegründung immer noch nicht bekommen, obwohl das Gericht dazu binnen 30 Tagen nach der Urteilsverkündung verpflichtet gewesen sei. "Dieses Urteil existiert eigentlich gar nicht", sagte Dragnea am Montag. Der PSD-Chef ist ein alter Freund "alternativer Fakten" - wie sich nun wieder zeigte.
Die Lichter von Bukarest leuchteten auch bis in die Nachbarländer Bulgarien und Republik Moldau, die auch schwer von grassierender Korruption betroffen sind. Vor den rumänischen Botschaften in Chisinau (Moldau) und Sofia (Bulgarien) kam es zu kleinen Sympathiekundgebungen.
In Rumänien hat die Protestbewegung zwar noch keinen Durchbruch gebracht. Vielleicht wird sie den Weg für die dringend notwendige Reform der politischen Klasse bereiten. Aber immerhin hat das Volk klar gesprochen. Rumäniens junge Mittelklasse, enttäuscht von Politikern aller Couleur, ging auf die Straße. An den Tagen nach den Protesten war der Vorplatz des Regierungspalastes stets blitzsauber: keine Plakatfetzen, keine Plastikbecher. Die sanften Revolutionäre hatten den Müll eingesammelt.