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Jo Cox, Opfer des geschürten Hasses

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

In Großbritannien lässt der Schock über den Mord an der Labour-Abgeordneten nicht nach.


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London. Der Mord an Jo Cox hat Gefühle aufgerührt, die vieles ins Wanken bringen. Wie konnte es zu diesem schrecklichen Mord an einer jungen Abgeordneten kommen - am helllichten Tag auf einem sonst friedlichen nordenglischen Marktflecken? Welches dunkle Geheimnis verbirgt sich hinter der Bluttat? Und wohin führt diese katastrophale Geschichte uns?

Gerade noch herrschte fieberhafter Wirbel ums kommende Referendum. Nun stehen mit einem Mal alle Räder still. Die beiden Lager im EU-Streit haben ihre Kampagnen ausgesetzt, alle Termine sind abgesagt. Premierminister David Cameron ist frühzeitig von einem Gibraltar-Trip zurückgekehrt und hat den Union Jack über der Downing Street auf Halbmast gesetzt. Trauerzüge und Szenen größter Betroffenheit beherrschten am Freitag das Bild in ganz Britannien. In London ist die Labour Party, deren "junger Star" Cox war, mit Kränzen und bleichen Gesichtern aufmarschiert. Tory-Premier Cameron bezeichnete Cox Ermordung als "absolut tragisch und grässlich".

Doch nicht nur die Politik trauert. Zahllose Sträuße wurden am Hausboot, in dem die 41-jährige Politikerin mit Mann und Kindern auf der Themse lebte, zusammen mit kleinen, oft rührenden Botschaften niedergelegt. In Kirchen überall im Land fanden Gebetsgottesdienste, auf öffentlichen Plätzen Mahnwachen statt.

In Birstall in West-Yorkshire, wo Cox ihren Wahlkreis hatte und wo sie am Donnerstag ihre wöchentliche Wähler-Sprechstunde abhielt, lagen sich langjährige Freunde und wildfremde Leute weinend in den Armen. Niemand konnte fassen, dass die zierliche junge Volksvertreterin mit dem gewinnenden Lächeln und der Passion für Flüchtlinge, Menschenrechte, mittellose Briten und einsame Menschen auf so entsetzliche Weise ihr Leben lassen musste. Zu Mittag, 24 Stunden nach der Tat, trafen überraschend auch Cameron, Oppositionsführer Jeremy Corbyn und der Speaker des House of Commons, John Bercow, zu einer Kranzniederlegung in Birstall ein. Man wolle, erklärten sie, "Solidarität aller Demokraten" demonstrieren. Für Montag haben Bercow und die Parteichefs das Parlament zu einer Sondersitzung einberufen. Ein Vorschlag, der am Freitag die Runde machte, war, dass die Abgeordneten bei dieser Gelegenheit nicht in Fraktionsordnung, sondern bunt durcheinander gewürfelt sitzen sollten.

Beifall von Rechtsextremen

Zumindest über den Tathergang ist man sich inzwischen etwas klarer geworden. Der mutmaßliche Täter, ein 52-jähriger Ortsansässiger namens Thomas Mair, lauerte der Abgeordneten offenbar mit einer Schusswaffe und einem Jagdmesser auf. Er stürzte sich auf sie, als sie ihre Sprechstunde beendet hatte und sich auf den Weg zu einer Pro-EU-Veranstaltung machen wollte. Mair stach mehrfach auf sie ein und gab drei Schüsse auf sie ab.

Später gab die Polizei ihren Tod bekannt. Thomas Mair spürten derweil in einem anderen Ortsteil zwei - übrigens unbewaffnete - Polizisten auf. Bilder, die Anwohner in den umliegenden Häusern machten, zeigen ihn am Boden und später, die Hände gefesselt, mit dem Rücken zu einer Wand.

Seit der Festnahme sind parallel zur Flut der Bilder aus dem Leben von Jo Cox auch Aufnahmen ihres mutmaßlichen Mörders in den Medien aufgetaucht - eines zeigt ihn mit weißer Baseball-Kappe, Armeekittel und roten Handschuhen. Mair, bestätigten seine Nachbarn, habe allein in seinem Haus gelebt - nicht unfreundlich, halt gern für sich und viel mit Gärtnern beschäftigt. Tatsächlich kannte den Mann, der vierzig Jahre lang an der selben Adresse gelebt haben soll, niemand im Viertel sonderlich gut.

Puzzlestücke seines Lebens, die am Freitag nach und nach bekannt wurden, deuteten auf frühere mentale Probleme hin, für die Mair offenbar auch einmal in Behandlung war. Andere Funde geben der Geschichte aber noch eine andere Färbung. Am Freitagabend gab die Polizei bekannt, dass in Mairs Haus "Nazi-Insignien und rechtsradikale Literatur" gefunden wurden. Schon zuvor war bekannt geworden, dass Mair einmal ein rechtsextremistisches südafrikanisches Magazin bezogen hatte. Bei US-Nazis der "National Alliance" soll er sich außerdem im Internet Gebrauchsanleitungen für den Bau einer Schusswaffe besorgt haben.

Zudem soll Mair bei dem Mord mehrfach "Britain First" gerufen haben. "Britain First" ist ein britischer Anti-Immigrations-Stoßtrupp, der von Mitgliedern der neonazistischen Britischen Nationalpartei (BNP) vor fünf Jahren als Extra-Kampfverband gegründet wurde. "Britain First" dementierte schon am Donnerstag jede Verbindung zum Täter. Eine andere Gruppe englischer Rassisten, "National Action", zollte der Tat jedoch lebhaft Online-Beifall. "Jetzt sind es nur noch 649 Abgeordnete", hieß es auf der Webseite der Gruppe. Die Polizei nahm Ermittlungen gegen sie auf.

Indes hielten viele Parlamentarier, auch aus Sorge um die eigene Sicherheit, am Freitag ihre Büros geschlossen. Zu viele Gewaltandrohungen gegen Volksvertreter schwirrten durchs Internet, klagten sie. Vor allem weibliche Abgeordnete würden ständig elektronisch "bombardiert". Während der Trauerfeiern am Freitag wagte noch niemand eine direkte Verbindung zwischen der Tat und der bitteren Brexit-Schlacht der vergangenen Wochen herzustellen. Labours Ex-Ministerin Yvette Cooper fand allerdings, das "Gift" des scharfen Streits um die EU könne eine "äußerst destruktive Wirkung" haben.

Labour-Chef Corbyn sprach davon, dass "eine Quelle des Hasses" seine junge Parteikollegin getötet habe. Er und Cameron sahen "einen Angriff auf die Demokratie" in der Bluttat von Birstall. "Wir werden es diesen Leuten, die Hass und Gift verbreiten, nicht erlauben, dass sie unsere Gesellschaft spalten", gelobte Corbyn.

Wie lange die Referendums-Kampagne nun ausgesetzt ist, weiß einstweilen niemand. Die EU-Schlacht trieb, als Cox getötet wurde, gerade ihrem Höhepunkt entgegen. Wahltermin ist der kommende Donnerstag. Das Referendum zu verschieben wird nicht erwogen. Es findet auf jeden Fall wie geplant statt.

1. Mai 1981: Der Wiener Stadtrat und Präsident der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft Heinz Nittel verlässt sein Wohnhaus in Wien-Hietzing, um zum Maiaufmarsch zu fahren. Der 21-jährige Palästinenser Husham Rahjih, Mitglied der Terrororganisation Abu Nidal, lauert dem Sozialdemokraten auf und erschießt ihn durch das Autofenster.

28. Februar 1986: Der schwedische Premier Olof Palme und seine Ehefrau sind nach einem Kinobesuch in der Innenstadt Stockholms unterwegs, als Palme aus nächster Nähe erschossen wird. Bei den Ermittlungen kommt es zu Widersprüchen. Immer wieder taucht die Vermutung auf, der schwedische Geheimdienst Säpo sei von Rechtsextremisten unterwandert und in den Mord verwickelt. Erst 1988 präsentieren die Behörden den vorbestraften und drogenabhängigen Christer Pettersson als Tatverdächtigen. 1989 wird er mangels Beweisen freigesprochen. Das Attentat auf den Sozialdemokraten bleibt Gegenstand von Ermittlungen.

30. Juli 1990: Der britische Konservative und Abgeordnete des Unterhauses Ian Gow stirbt durch eine von der IRA platzierte Autobombe in Hankham, East Sussex. Gow hatte sich gegen jede Annäherung Großbritanniens gegenüber irischen Nationalisten ausgesprochen. Das machte ihn zum vorrangigen Ziel der IRA.

12. Oktober 1990: Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) wird auf einer Wahlkampfveranstaltung in Oppenau von einem psychisch kranken Mann niedergeschossen. Der heutige Finanzminister Deutschlands ist seither vom dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen.

5. Dezember 1993: SPÖ-Bürgermeister Helmut Zilk wird bei einem Briefbombenattentat des rechtsextremen Terroristen Franz Fuchs an der linken Hand schwer verletzt. Viele, darunter Zilk selbst, waren überzeugt, dass der bis 1997 andauernde Bombenterror mit vier Toten nicht allein auf das Konto von Fuchs ging.

11. September 2003: Die schwedische Politikerin Anna Lindt wird in einem Stockholmer Einkaufszentrum Opfer einer Messerattacke. Ihr Mörder, ein schwedisch-serbischer 25-Jähriger, gesteht das Verbrechen 2004, behauptete aber, innere Stimmen hätten ihm die Tat befohlen.

17. Oktober 2015: Die Kölner Kommunalpolitikerin Henriette Reka wird an einem CDU-Informationsstand in Köln-Brausfeld von einem 44-Jährigen mit einem Messer attackiert und schwer verletzt. Als Grund nennt der Täter - er war zuvor Mitglied der neonazistischen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei - Rekas Flüchtlingspolitik. Reka, die nach dem Attentat mehrere Tage lang im künstlichen Koma liegt, gewinnt die Wahl am 18. Oktober und wird erste Oberbürgermeisterin Kölns.

Attentate auf EUropäische Politiker