Der Neurobiologe Joachim Bauer über die Rolle der Spiegelneuronen in unserem Gehirn, die Wichtigkeit von guten zwischenmenschlichen Beziehungen, die Gefährlichkeit von "Killerspielen" - und warum es recht wohl einen freien Willen gibt.
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Wiener Zeitung:Herr Professor Bauer, in Ihrem Bestseller "Warum ich fühle, was du fühlst" schreiben Sie darüber, wie unsere Nervenzellen im Gehirn, die sogenannten Spiegelneuronen, unser Verhalten anderen Menschen gegenüber beeinflussen. Wir beide begegnen einander heute zum ersten Mal. Haben Sie eine Vorstellung davon, was unsere Spiegelneuronen jetzt gerade machen?Joachim Bauer: Sie sind in Bereitschaft. Immer dann, wenn wir mit anderen Menschen zusammenkommen, sind unsere Spiegelneuronen in Bereitschaft, um mir und auch Ihnen zu melden, wie wir uns aufeinander einstimmen können, was die Erwartungen des Anderen sind, auch wie die Stimmung des Anderen ist. Das sind natürlich keine expliziten, sondern immer implizite, also überwiegend unbewusst vermittelte Botschaften.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel in der Art, wie wir jetzt miteinander umgehen. Sie könnten mir zum Beispiel zeigen, dass Sie mich für ein Rindviech halten, ich könnte umgekehrt arrogant auftreten. Ich würde Sie damit einschüchtern - und Sie würden mich einschüchtern. Ich würde dann wahrscheinlich weniger sagen - und mir denken, hoffentlich ist das Gespräch bald vorbei.
Ist auf die Spiegelneuronen immer Verlass?
Es kann durchaus sein, dass die Spiegelneuronen sich täuschen, aus zweierlei Gründen: Entweder, weil der Andere mir etwas vorspielt, oder weil er meine Wahrnehmung nicht richtig decodiert. Der Vorteil der Spiegelneuronen ist aber, dass sie ein schnell arbeitendes System sind, das uns erkennen lässt, was mit dem Anderen los ist.
Aber nicht jeder Mensch ist ein Meister der Intuition. Der eine nimmt Stimmungen schnell wahr, der andere gar nicht.
Ja, denn die Spiegelneuronen lernen durch Erfahrungen, die wir in unserem bisherigen Leben mit anderen Menschen gemacht haben. Nur dann können sie gut funktionieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir als Kinder einfühlsame Menschen um uns herum haben.
Würden unsere Spiegelsysteme ohne Beziehungen verkümmern?
Nicht nur die Spiegelsysteme, auch die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns brauchen diese Beachtung. Eine ganze Serie von neueren Studien konnte zeigen, dass der wichtigste Aktivator für die Motivationssysteme des Gehirns die Beachtung und Zuwendung anderer Menschen ist.
Sie meinen Anerkennung, Sympathie und Liebe?
Ja. Liebe ist für unser Gehirn der stärkste Motivator! Wenn beispielsweise Kinder nach Hause kommen und niemand da ist, wenn die Eltern erst abends nach Hause kommen, der Vater sofort zum Fernsehapparat geht und die Mutter Arbeiten erledigen muss, können Kinder in einer solchen Situation keine Motivation entwickeln. Eine der wichtigsten Botschaften der modernen Neurobiologie lautet: Ohne zwischenmenschliche Beziehung gibt es keine Motivation.
Zu einer liebevollen Beziehung gehört aber auch Kritik. Oder ist Kritik unerwünscht, weil sie sich auf die Entwicklung des Kindes negativ auswirken könnte?
Nein. Das Kind will gesehen, wahrgenommen werden, es will von uns eine Auskunft sowohl über seine starken wie auch über seine schwachen Seiten erhalten. Kinder wollen auch Kritik hören und von uns wissen, was wir fordern. Kritik am Kind sollte jedoch nie demütigend, sondern immer mit der Vision einer Entwicklung zum Besseren hin verbunden sein. Wenn Eltern dem Kind bei jedem Fehler sagen: "Typisch für dich, von dir haben wir nichts Besseres erwartet!", dann wird dieses Kind keine Potenziale entfalten. Anders ist es, wenn die Eltern sagen: "Das war nicht gut, aber wir glauben, dass du es das nächste Mal besser machen wirst!", dann wirkt das wie eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Von Andrew Meltzoff, einem amerikanischen Forscher, stammt der schöne Satz: "Wenn wir gespiegelt werden von anderen Menschen, dann ist das eine Botschaft über uns selbst." Schon Martin Buber wusste: Erst in der Begegnung mit anderen Menschen spüren wir, wer wir selber sind.
Was mit Menschen passiert, die ohne Beziehungen aufwachsen, zeigt ja auch die Geschichte von Kaspar Hauser.
Ich kenne die Details dieses Falles nicht, aber richtig ist ohne Zweifel: Wenn Sie einen Menschen lange Zeit dauerhaft isolieren, töten sie diesen Menschen, denn seine Motivationssysteme werden biologisch abgeschaltet. Etwas Ähnliches passiert beim sogenannten Mobbing. Wenn ein Vorgesetzter oder Kollegen die Absicht haben, einen Mitarbeiter zu zerstören, dann wird er isoliert, indem man ihn nicht mehr grüßt, ihm keine Aufgaben mehr zuweist und keine Informationen mehr gibt. Das sind Methoden, die nicht nur zu einer psychischen, sondern letztlich auch zu einer biologischen Zerstörung führen.
Ihr Kollege Wolf Singer behauptet, dass negative frühkindliche Erfahrungen die Hirnarchitektur irreversibel verändern. Das sind nicht unbedingt rosige Aussichten für Menschen, die in gestörten Familien aufgewachsen sind.
Singer hat sensationelle Arbeiten zur Erklärung des Bewusstseins gemacht, hat aber auch ein paar Dinge gesagt, die meines Erachtens unhaltbar sind. Dazu gehört auch seine Aussage, dass es keinen freien Willen gäbe. Auch seine Aussage über die Irreversibilität kindlicher Prägungen würde ich so nicht unterschreiben. Das Gehirn baut sich zeitlebens um, der Prozess der neuronalen Plastizität hört nie auf. Ungünstige Einwirkungen in der Frühphase des Lebens können in hohem Maße durch spätere gute Erfahrungen kompensiert werden. Am deutlichsten zeigt sich dieses Veränderungspotential in der Psychotherapie. Aber ich stimme Singer zu, dass es Traumatisierungen gibt, die so schwere biologische Folgen hinterlassen, dass sie in einer normalen Lebenszeit nicht wieder gutzumachen sind.
Es sei denn, man löscht die Erinnerungen, wie es vor kurzem einem Forscherteam von der New York University im Versuch mit Ratten erstmals gelungen ist.
Bei diesen Versuchen, die Sie zitieren, wurde die biochemische Umhüllung von bestimmten Genen in den Gedächtniszentren verändert. Man hat herausgefunden, dass jede Erfahrung, die ein Mensch macht, ein spezifisches Muster an dieser Umhüllung hinterlässt. Dieses Muster ist sozusagen die biologische Seite des Gedächtnisses. Man kann nun offenbar Erinnerungen löschen, indem man das Muster der Umhüllung bei diesen Genen wieder ausradiert. Das Problem ist, dass die biochemischen Methoden momentan noch nicht soweit entwickelt sind, dass nur jene Muster ausradiert werden, die man treffen will. Die Gefahr ist, dass es zu ungewollten Veränderungen auch bei anderen Genen kommt.
Die Forscher erhoffen sich aber trotzdem, mit dieser Methode schwer traumatisierten Patienten, zum Beispiel vergewaltigten Frauen, helfen zu können. Sie wollen die traumatischen Erinnerungen löschen und die Betroffenen so von jahrelangen Alpträumen und Flashbacks erlösen.
Das ist eine zwiespältige Sache. Eine solche Methode könnten sich auch kriminelle Täter zunutze machen, um beim Opfer die Erinnerung an die Tat auszulöschen. Das Problem ist außerdem, nur das zu löschen, was man löschen will, und zu vermeiden, dass man zugleich ungewollt große Teile des biografischen Gedächtnisses löscht. In Einzelfällen mag es begründet sein, traumatische Erinnerungen zu löschen, wenn die betroffene Person das will und wo keine sonstigen ethischen Bedenken bestehen. Im Prinzip aber gehöre ich nicht zu jenen, die sofort begeistert Hurra rufen, wenn wieder einmal eine neue Möglichkeit entdeckt wurde, wie man mit einer Substanz in psychische Prozesse eingreifen kann.
Das Interesse, unser Gehirn zu manipulieren, ist groß. Das US-Verteidigungsministerium investiert jährlich zehn Prozent seiner Forschungsgelder in die Hirnforschung, Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Das amerikanische Verteidigungsministerium macht das, was alle Kriegsministerien machen. Sie forschen für bessere Kriegsführung. Ein Beispiel ist die Entwicklung der Killerspiele. Computerspiele, die heute weltweit gespielt werden, in denen Jugendliche andere Menschen jagen, quälen und erschießen können, wurden vom US-Verteidigungsministerium entwickelt, um Soldaten ans Töten zu gewöhnen. Wenn junge Menschen viele Stunden täglich solche Spiele spielen, schreiben sich entsprechende Muster ins Gehirn ein. Wir haben in Deutschland 700.000 Jugendliche, die zwanzig Stunden und mehr pro Woche solche Spiele spielen, ohne zu wissen, was die Folgen sein werden. Das Ganze ist vermutlich eine Zeitbombe.
Trotzdem schreiben Sie in Ihrem Buch "Prinzip Menschlichkeit", dass das Grundprinzip des Menschen der Wunsch nach Anerkennung ist und nicht die Aggression. Wie passt das zusammen?
Richtig ist, dass unsere neurobiologischen Grundmotivationen auf die Herstellung sozialer Akzeptanz gerichtet sind. Die Evolution hat uns jedoch auf halber Strecke abgesetzt. Sie hat uns zwar als Wesen konstruiert, die - wenn wir gesund bleiben wollen - auf gute zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen sind. Die Evolution hat uns zugleich aber nicht mit einem angeborenen Mechanismus ausgestattet, der uns in die Lage versetzt, jederzeit gute Beziehungen zu leben. Einer der Gründe dafür ist das Phänomen der Aggression. Es klafft also eine Lücke zwischen dem, was wir brauchen, und dem, was wir mit Blick auf die Herstellung guter Beziehungen leisten können. Diese Lücke ist das eigentlich Interessante am Menschsein, sie zwingt uns zu einem Suchprozess, den wir Kultur nennen.
Wir sind also auf gute Beziehungen angewiesen. Wollen Sie damit sagen, dass der Mensch von Natur aus gut ist?
Nein. Denn der Mensch kann eine Bestie sein. Allerdings ist die Aggression aus neurobiologischer Sicht kein Trieb, also kein primäres Bedürfnis. Die Aggression ist ein machtvolles biologisches und psychisches Programm, welches immer dann abgerufen wird, wenn Menschen sich in ihren Entfaltungsmöglichkeiten eingeengt fühlen, oder wenn sie sozial ausgegrenzt oder gedemütigt werden.
Sie haben vorhin erwähnt, dass die Aussage von Wolf Singer, wir hätten keinen freien Willen, völlig unhaltbar sei. Warum?
Das Missverständnis liegt bei der Frage, wie wir den "freien Willen" definieren. Wenn "freier Wille" bedeuten soll, dass ich mich selbst jederzeit neu erfinden kann, dann gibt es natürlich keinen freien Willen, denn wir leben als Menschen unter dem Einfluss zahlreicher biologischer und psychologischer Vorbedingungen, die wir nicht aufheben können. Wir sind in hohem Maße Gewordene, also Menschen, die eine Vorgeschichte haben, die uns natürlich auch einschränkt und uns einen Rahmen setzt. Aber innerhalb dieses Rahmens gibt es in jeder Situation, in der wir entscheiden müssen, die Möglichkeit, mehrere Optionen abzuwägen und eine Entscheidung zu fällen.
Die Leugner des freien Willens berufen sich auf Experimente, bei denen es darum ging, dass die Versuchspersonen zu einem von ihnen selbst gewählten Zeitpunkt einen Finger heben sollten. Dabei hat sich gezeigt, dass die Hirnaktivitäten für das Heben des Fingers schon vorbereitet wurden, bevor die Probanden gesagt haben, dass sie den subjektiven Beschluss zum Heben des Fingers gefasst hätten.Abgesehen davon, dass das natürlich extrem kurze Zeiträume sind, die da abgegriffen werden müssen, und dass unklar ist, wie genau gemessen wurde, ist dieses Experiment nicht geeignet, eine Aussage über den "freien Willen" abzuleiten. Der Philosoph Jürgen Habermas hat dies in seiner berühmten Tokio-Rede brillant dargelegt. Der freie Wille ist die Notwendigkeit, in einer gegebenen Lebenssituation die eine oder die andere Möglichkeit zu wählen. Das ist eine andere Entscheidung als die, selbst zu bestimmen, wann ich einen Finger hebe.
Die Hirnforschung macht riesige Fortschritte. Mittlerweile kann man im Kernspintomografen feststellen, ob wir uns gerade visuelle oder verbale Inhalte vorstellen. Semantische Inhalte können aber noch nicht gelesen werden. Wird auch das irgendwann einmal möglich sein?
Ich glaube nicht. Aber es wird wohl möglich sein, festzustellen, ob es innere Widersprüche gibt, ob jemand einen Konflikt in sich fühlt, vielleicht auch, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht. Ich glaube aber, dass wir niemals an einen Punkt kommen werden, an dem wir das, was wir subjektiv und inhaltlich erleben, mit biochemischen oder apparativen Mitteln beschreiben können. Wenn jemand Angst hat, taucht in jedem Hirn eine Aktivität der Mandelkerne auf, und Ekel findet immer in der Insula statt. Aber die Frage, wovor ich Angst habe, oder was mich ekelt, ist mit den Apparaten nicht beantwortbar.
Wir brauchen uns also nicht vor einem futuristischen Horrorszenario zu fürchten, dass wir einmal mit einem Handy herumlaufen werden, das abrufen kann, was der Andere gerade denkt?
Ich glaube nicht, dass so etwas jemals möglich sein wird. Das beste Instrument, mit dem wir Informationen über den inneren Zustand eines anderen Menschen abrufen können, sind wir selbst. Der Mensch ist der beste Sensor für die Gefühle anderer Menschen. Die beste Auskunft über die Gefühle, über das Wesen eines anderen Menschen sind unsere Spiegelneuronen, die uns zu Mitgefühl und Empathie befähigen. Sie sind ein göttliches Geschenk.
Zur Person
Joachim Bauer wurde 1951 in Tübingen geboren und ist Neurobiologe, Mediziner und Psychotherapeut. Nach seiner medizinischen Ausbildung widmete sich Bauer zwei Jahre lang der Genforschung, absolvierte die Fachausbildung zum Internisten, ehe er nach einem einjährigen Aufenthalt in den USA dank seiner Neugierde, wie er selbst sagt, die Hirnforschung für sich entdeckte. Bauer wurde sowohl in Innerer Medizin als auch in Psychiatrie habilitiert.
Heute ist Joachim Bauer an der Abteilung für Psychosomatische Medizin der Universitätsklinik Freiburg tätig und Professor für Psychoneuroimmunologie. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Münchner "Instituts für Gesundheit in pädagogischen Berufen". Derzeitige Schwerpunkte seiner Arbeit sind somatoforme Störungen, Traumafolge-Krankheiten, Depressionen, Angsterkrankungen und beruflicher Burnout. Bauer befasst sich insbesondere mit Fragen der Gesundheit in pädagogischen Berufen. Für seine neurobiologischen Forschungsarbeiten erhielt er 1996 den renommierten Organon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie.
In seinem Bestseller "Warum ich fühle, was du fühlst" (Verlag Heyne) schreibt Bauer über die intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen. Weitere Bücher: "Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren" (Hoffmann und Campe), "Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern" (Piper). Zuletzt erschien sein Buch "Lob der Schule" (Hoffmann und Campe), eine Antwort auf Bernhard Buebs viel diskutierte Streitschrift "Lob der Disziplin". Joachim Bauer ist Vater von zwei Kindern und lebt in Freiburg.
Spiegelneuronen
Spiegelneuronen (auch: Spiegelneurone) sind Nervenzellen, die im Gehirn während der Betrachtung eines Vorgangs die gleichen Potenziale auslösen, wie sie entstünden, wenn dieser Vorgang nicht bloß (passiv) betrachtet, sondern (aktiv) gestaltet würde.
Sie wurden vom Italiener Giacomo Rizzolatti und dessen Mitarbeitern bei Affen im Tierversuch entdeckt. In diesen Un tersuchungen fiel auf, dass Neuronen im Feld "F5c" des Großhirns dann reagierten, wenn zielmotorische Hand-Objekt-Interaktionen durchgeführt oder bei anderen - zumindest anatomisch ähnlichen - lebenden Individuen beobachtet wurden.
Bei Menschen konnten diese Neuronen u. a. im Broca -Zentrum nachgewiesen werden, das für die Sprachverarbeitung bedeutsam ist. Es wird derzeit ein ganzes System von Spiegelneuronen angenommen.