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"Ob er es weiß oder nicht: auch dieser Galtung ist wie sein Vater ein Arzt. Allerdings von einer ganz neuen Art. Sein Patient ist die menschliche Gesellschaft, sein Arbeitsfeld ist die Welt. Beide sind schwerkrank, vielleicht sogar schon todkrank an Leiden, die von Theoretikern und Praktikern so verschieden erklärt werden, dass eine zusammenwirkende und alle Kräfte mobilisierende Behandlung nicht zustandekommt. In diesem vielstimmigen Disput hat die Stimme des vielsprachigen ,Doctor mundi' aus Norwegen ein besonderes Gewicht. Robert Jungk über Johan Galtung, 1984
"Ich werde alles tun, um das Leben zu fördern und nicht den Tod" Johan Galtung, 1993
Johan Galtung gilt weltweit als einer der führenden Vertreter der kritischen Soziologie sowie insbesondere der Friedens- und Konfliktforschung. Er ist Begründer des ersten europäischen Friedensforschungsinstituts 1959 in Oslo, das danach suchte, Frieden mit friedlichen Mitteln zu verwirklichen. In diesen Tagen hat Johan Galtung "NIFF-das New Nordic Institute for Peace Research" gemeinsam mit Jan Oberg und Kai Frithjof Brand-Jacobsen gegründet.
Seine ungewöhnliche wissenschaftliche Laufbahn begann mit dem Studium der Soziologie und Mathematik. Mit 39 Jahren wurde er weltweit der erste Professor für Friedensforschung. Er lehrte in Europa, USA sowie in Asien, Lateinamerika und Afrika, an der Freien Universität Berlin war er Honorarprofessor am Fachbereich Politische Wissenschaften. Er nahm darüber hinaus zahlreiche internationale Tätigkeiten wahr - u. a. war er erster Leiter des Inter-University Centers in Dubrovnik und Gastprofessor an der UN-University in Genf . 1987 erhielt er den Right Livelihood Award - den Alternativen Friedensnobelpreis, 1988 den norwegischen Humanisten-Preis, 1990 den Sokrates-Preis für Erwachsenenbildung, 1993 den Baja International Prize für die Verbreitung Gandhischer Werte außerhalb Indiens.
Er hat bis heute mehr als 50 Bücher und über 1.000 wissenschaftliche Veröffentlichungen verfasst, allein die Hälfte davon in den letzten zehn Jahren. Sein neuestes Werk gemeinsam mit Carl G. Jacobsen "Searching for Peace - The Road to Transcend" gibt einen genauen Überblick über Galtungs Methode der Konflikttransformation und ihren theoretischen Hintergrund.
Johan Galtungs politische Laufbahn fing mit seiner Kriegsdienstverweigerung an. Nach dem Abschluss des einjährigen Sozialdienstes lehnte er die gegenüber dem normalen Wehrdienst zusätzliche sechsmonatige Dienstzeit ab und kam dafür sechs Monate ins Gefängnis: "Ich habe die norwegische Gesellschaft von unten kennengelernt. Das ist nützlich, wenn man von oben kommt. Das Gefängnis war für mich letztlich eine Erziehung zur Respektlosigkeit." Im Gefängnis entstand auch Galtungs erstes Buch über Mahatma Gandhi. An diesem Beispiel lässt sich vielleicht am besten die Lebensphilosophie von Johan Galtung illustrieren: nämlich den Problemen immer eine positive Wendung zu geben.
Ist dies vielleicht auch die Erklärung dafür, dass Johan Galtung im räumlichen und geistigen Sinn ein Nomade ist und sich selbst auch als ein solcher, mit seinem Wohnwagen durch die Welt ziehend, bezeichnet? Dass Galtung sich an keinem Ort, in keinem Land endgültig verwurzelte, bringt den immensen Vorteil mit sich, dass er niemals Bindungen eingehen mußte, die der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit seines Denkens hinderlich gewesen wären.
"Was sollen die Forscher also mit ihren Erkenntnissen tun? Sie ins Ohr der Fürsten flüstern wäre antidemokratisch. Dem Volk zu predigen ist undemokratisch. Bleibt also nur das Dritte: Man bleibt intellektuell unabhängig. Man macht Vorschläge, aber immer öffentlich. Man nimmt an Seminarien mit Eliten teil und an Veranstaltungen mit dem Volk, immer im Geist des Dialogs." Diese urdemokratische Überzeugung drückt sich auch in Johan Galtungs Wissenschaftskonzeption aus: "Wissenschaft besteht gerade in der Hochzeit von Abstraktem mit Konkretem, im Erkennen der empirischen Wirklichkeit und der Entwicklung von Konzepten, die - losgelöst von ihr - an verschiedenen Punkten wieder erkennbar sind."
Johan Galtung hat seinen weltweiten Ruhm begründet mit seinem Paradigma der strukturellen Gewalt, das er erstmals 1970 veröffentlichte. Johan Galtung definiert Gewalt dort, "wo eines der vier Grundbedürfnisse verletzt wird: das Überleben, das allgemeine körperliche Wohlbefinden, die Identität oder der Sinn des Lebens und die Freiheit. Johan Galtung stellt damit dem etablierten Gewaltbegriff, den er mit "direkt" kennzeichnet, den strukturellen und den der kulturellen Gewalt gegenüber. "Die strukturelle Gewalt verletzt die Bedürfnisse, aber niemand ist direkt Täter und in diesem Sinne verantwortlich. Die kulturelle Gewalt ist die Legitimierung von struktureller oder direkter Gewalt durch die Kultur."
Galtung differenziert zwischen vier Generationen von Menschenrechten: den bürgerlich-demokratischen, den ökonomisch-sozialen, den ökologischen und den multikulturellen. Während die ersten beiden sich mehr oder weniger durchgesetzt hätten, sei die dritte Generation noch stark umstritten und die vierte erst zu formulieren. Dies bedeutet für ihn die Notwendigkeit einer maßvollen "Entwestlichung" der Menschenrechte und die Einbeziehung kollektiver Rechte. Bei der Auseinandersetzung um Minderheiten-, Frauen- und ähnliche Rechte wird diese Problematik deutlich.
Und noch eines hat uns Galtung mitgegeben: Die Erkenntnis, dass manche Konflikte nicht zu lösen sind, dass es kein konfliktfreies Paradies gibt und dass wir mit den Widersprüchen in uns und um uns herum leben lernen müssen.
Wilfried Graf ist Mitarbeiter des ÖSFK.
Das Österreichische Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) ist ein privater, gemeinnütziger und parteiunabhängiger Verein zur Förderung von Friedensforschung, Friedenserziehung und Friedenspolitik. Schwerpunkte sind die Friedensuniversität und die Trainingskurse für zivile Konfliktbearbeitung.