Österreichs oberster Richter, Johann Rzeszut, ist besorgt: Die Privatisierung des Rechts führt zu mehr Delikten, im Gefängnis regieren die Drogen und die richterlichen Aufsichtsgremien funktionieren schlecht
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Wiener Zeitung:Was ist die größte Sorge des OGH-Präsidenten am Ende seiner Karriere?Johann Rzeszut: Wir können zweifellos unter sehr harmonischen Bedingungen wirken. Aber eine Tendenz bereitet mir besondere Sorge: Dass unter eminentem Spardruck die Rechtspflege schrittweise privatisiert und damit eine zentrale Bedeutung der staatlichen Rechtspflege unterlaufen wird, nämlich die Schaffung und Erhaltung von Rechtsbewusstsein. Sie wird von der staatlichen Fürsorge weg in private Bereiche ausgelagert. Gemeint sind dabei etwa im Strafrecht die Diversionen und im Zivilbereich Mediation und Schiedsgerichte.
Die Parteien wollen sparen und schnellere Ergebnisse.
Aus personeller Sicht wird es kaum schneller gehen; denn sehr oft sind pensionierte Richter oder Universitätsprofessoren - nicht selten ohne praktische Judikaturerfahrung - die Schiedsrichter. Was sicher fehlt, ist ein Instanzenzug, obwohl es schon gewisse Anfechtungsmöglichkeiten gibt. Mediation und Schiedsgerichtsbarkeit gewährleisten jedenfalls nicht gleichwertig, was die Rechtsordnung aus gutem Grund partiell der Parteiendisposition entzieht, nämlich jene Rechtselemente, in denen ein wesentlicher Schutz von Schwächeren verankert ist. Etwa im Arbeits-, Konsumentenschutz- oder Mietrecht.
Im Strafrecht gibt es aber kaum solche Gestaltungsmöglichkeit.
Auch dort ist die Entwicklung ähnlich. Durch sogenannte alternative Reaktionsformen kommt der Signaleffekt der staatlichen Strafrechtspflege nicht mehr voll zum Tragen. So trifft die Diversion einen Bereich, der begriffsessenziell der gerichtlichen Strafbarkeit vorbehalten ist. Das Gericht wird hier im überwiegenden Regelfall überhaupt nicht befasst. Das ist ein Etikettenschwindel. Das Strafrecht ist ja vom repräsentativen Willen der Öffentlichkeit getragen: Vorgänge werden als so inakzeptabel gewichtet, dass sie gerichtlich bestraft werden sollen. Nur wenn Gerichte eingebunden sind, wie es auch die Verfassung will, bleibt diese Wirkung erhalten.
Bei der Diversion erfährt das Gericht jedoch regelmäßig nicht von der Straftat. In weit mehr als fünfzig Prozent aller relevanten Sachverhalte wird am Strafgericht vorbei agiert! Dazu kommt noch, dass selbst bei der Abwicklung der staatsanwaltlichen Diversionsvariante der Staatsanwalt persönlich gar nicht präsent ist und sein bewusstseinsbildender Einfluss nicht zum Tragen kommen kann, weil die praktische Umsetzung der Diversion durch private Vereine geschieht. In einem Vereinslokal sitzen völlig informell Täter, Opfer und Sozialarbeiter beisammen. Die Signalwirkung durch den Bundesadler bleibt komplett auf der Strecke.
Würden Sie die Diversion wieder abschaffen?
Mein Vorschlag wäre, dass der Richter die Personen vorlädt und erklärt, dass der Verdacht einer gerichtlich strafbaren Tat besteht, und dass er dem Verdächtigen gegenüber dann in der Richtung aktiv wird: "Wegen dieser und jener Faktoren kommt dir die Gesellschaft entgegen und gibt dir die Hand, indem sich nunmehr der Verantwortungsbereich Sozialarbeit deiner annimmt." Dann wäre die Signalwirkung gewährleistet, die sonst völlig fehlt. Denn: Wo immer alternative Modelle praktiziert wurden - etwa angefangen bei Suchtmitteldelikten Anfang der 70er Jahre und Initiativen im Bereich des Jugendstrafrechts - war der Erfolg im Hinblick auf die Deliktshäufigkeit verheerend.
Dort ersetzt Therapie die Strafe.
Ja, das waren die ersten Ansätze. Im Rahmen des sogenannten Erlagschein-Strafrechts fand in der Zeit von 2000 bis 2004 eine multiplikative Steigerung der kleineren und mittleren Straftaten statt. Diversion in der geltenden Fassung kann nur dann als Erfolg verkauft werden, wenn man die Zahl der Anwendungsfälle - mehr als fünfzig Prozent - als Erfolg wertet. Dass wir dadurch weniger vorbestrafte Personen haben, liegt auf der Hand, aber wo ist der gesellschaftliche Nutzen, wenn die Zahl der Delikte seither explodiert beziehungsweise zuletzt auf Rekordhöhe stagniert?
Sie meinen, ein Gerichtssaal würde den Übeltäter mehr beeindrucken, als wenn . . .
. . . ja, jedenfalls mehr, als wenn vier Leute in Blue Jeans und T-Shirt dort sitzen und sagen: "Gib dem Opfer die Hand, dann macht es statt 340 nur 120 Euro aus". Das hat mit bewusstseinsbildender Strafrechtspflege nichts mehr zu tun. Das ist keine Geldstrafe mit der Mahnqualität des gerichtlich transportierten Bundeswappens, sondern halt ein Geldbetrag, zu dessen Zahlung man sein Einverständnis erklärt.
Aber immerhin muss auch der Geschädigte immer zustimmen.
Ja. Und das ist ein Punkt, den ich schon vom Ansatz her überhaupt nicht verstehe: Denn rechtsbeachtliche Zustimmung ist etwas, was zumindest partielle Privatautonomie voraussetzt. Die gibt es im Strafrecht in der Regel nicht. Nur im amerikanischen System handeln Staatsanwalt und Verteidiger die Konsequenzen im Vorhinein aus. Damit werden aber fundamentale Grundsätze unseres Rechtssystems mit dem Effekt verwässert, dass die Hemmschwelle für weitere Taten sinkt. Das lässt sich statistisch nachweisen. Seit Einführung der Diversion gibt es viermal so viele Eigentumsdelikte.
Ist das eine präzise Zahl?
Das wird schon hinkommen. Obwohl ich das reaktionserweiternde Instrumentarium der Diversion, zum Beispiel gemeinnützige Arbeit, befürworte, soll deutlich bleiben, dass es um eine gerichtlich strafbare Tat geht. Für viele Menschen ist es entscheidend, ob eine gerichtliche Vorstrafe droht. Dieses Signal ist Wurzel, Ursprung und seit jeher Hauptzweck gerichtlichen Strafrechts.
In den USA gilt neuerdings sehr stark das Prinzip der Zero Tolerance. Auch bei Kleindelikten wird wieder energisch eingeschritten. Wenn jemand in eine Hausecke pinkelt, schaut man nicht weg, sondern holt einen Polizisten. Ist das Ihre Idee?
Die Frage geht in die Richtung unreflektierten Law-and-order-Fanatismus. Man muss auf dem Boden der Vernunft bleiben. "Rule of law" ist demgegenüber ein positiv besetztes Modewort, das der Sache näher kommt. Es ist leider zuletzt zu viel an Bewährtem, vom bloßen Taktgefühl bis hin zu rechtsrelevanten zivilgesellschaftlichen Verhaltensweisen, den Bach hinuntergegangen. Mit mentalen Zäunen, die im Lauf der Generationen gewachsen sind, sollte man vorsichtig sein, bevor man sie als antiquiert entsorgt. Angesichts übermäßiger Konzessionen schlägt man nun aber in den USA ins andere, teilweise lächerliche Extrem aus und pönalisiert dann teilweise auch Unverständliches.
Hinter einem liberalen Umgang mit Straftaten steckt aber wohl auch die Erfahrung, dass Gefängnisse tendenziell Schulen des Verbrechens und nicht Therapie des Verbrechens sind.
Das ist eine Konsequenz der Mängel im Justizbereich. Für mich ist es himmelschreiend, dass man in einem Gefängnis den Begriff "drogenfreie Zone" überhaupt gebrauchen muss. Ich erinnere mich an einen Fall, wo ein Häftling aus Verzweiflung Selbstmord begangen hat, weil er das Geld für seinen anstaltsinternen Drogenkonsum nicht mehr besorgen konnte und von seinen dealenden Mithäftlingen terrorisiert wurde. Vor seinem Tod hat er darüber einen langen Brief geschrieben. Wenn man das gelesen hat, fragt man sich, ob die Justiz immer verantwortungsbewusst agiert hat. Das war für mich sehr erschütternd. Adäquat geführte Gefangenenhäuser sind zwar kein Allheilmittel, aber eine jener strafrechtlichen Belastungskomponenten, die als bewusstseinsbildend und verhaltenssteuernd aus der Sicht der Spezial- und Generalprävention unverzichtbar sind. Primär sind es die Straftaten, die inhuman sind. Je deliktsärmer eine Gesellschaft ist, desto humaner ist sie. Maßnahmen der Strafrechtspflege, die bei der Senkung der Kriminalitätsrate nicht greifen, sich vielmehr dadurch auszeichnen, dass jeweils Kriminalitätssteigerungen zu beobachten sind, sind kein Beitrag zu gesellschaftsnützlicher Humanität. Der bloße Ersatz einer strafgerichtlichen Verurteilung durch eine alternative Reaktion ist kein Erfolg, er reduziert sich auf eine vordergründige Schönheitsoperation an der Verurteilungsstatistik.
Was ist da neben der Strafe wichtig?
Vor allem im Bereich der Eigentumsdelikte gibt es eine Nicht-Aufklärungsrate von bis zu 80 Prozent. Wenn jemand damit rechnen kann, gar nicht erwischt zu werden, dann ist die Sanktionsproblematik weitestgehend obsolet.
Hat ein OGH-Präsident in seinem Leben nie ein Delikt begangen?
Ich bin in einer harten Gegend gleich neben dem Prater aufgewachsen. Im Frühjahr der vierten Mittelschulklasse beschloss die Freizeit-Partie, zu der ich gehörte, eine Geisterbahn im Prater auszuräumen, die Glühbirnen herauszuschrauben etc. Da ich aber im Herbst unter Umständen ein Führungszeugnis für eine Lehrstelle gebraucht hätte, hab ich mich geweigert mitzumachen. Das wurde in der Gruppe auch eingesehen; da war ich dann nicht der Feigling. Damals hat es keine beschränkte Strafregisterauskunft gegeben. Diese Einschränkung halte ich auch aus dieser Erfahrung heraus für den größten Unsinn. Wenn man wie heute nicht selten sechs, sieben Freischüsse, das heißt Tatbetretungen ohne jedes Folgerisiko, hat: Womit könnte man in einer entsprechenden Lage dann rechtfertigen, bei solchen Aktionen nicht mitzumachen?
Was erwarten Sie sich von der Reform der Strafprozessordnung?
Die Reform hat den Nationalrat passiert, man hat daraus das Beste zu machen. Ich habe insoweit allerdings große Sorge, dass damit das in der Verfassung verankerte Anklageprinzip unterwandert wird - also die strikte Trennung zwischen dem, der einen Sachverhalt untersucht, und demjenigen, der dann darüber urteilt. Die Sondierung eines Verdachts verlagert sich nun vom Untersuchungsrichter hin zum Ermittlungsstaatsanwalt. Dieser macht die Einvernahmen, entscheidet über Anklage oder Einstellung und letztlich im Rahmen der Diversionsregelung sogar mit Sperrwirkung - kein zweites Verfahren wegen der gleichen Tat - in der Sache selbst. Das ist eigentlich unglaublich. Der Staatsanwalt greift selbst auf, erhebt selbst und finalisiert selbst. An dieser lupenreinen Renaissance des Inquisitionsprinzips aus der Zeit vor 1848 vermögen weder eine Zustimmung der Betroffenen - Strafrecht ist ja grundsätzlich nicht disponibel - noch jene Versuche verfassungsrechtlich etwas ändern, die Staatsanwaltschaft nicht als Verwaltungsbehörde, sondern als Sonderorgan justizieller Prägung zu verstehen. Ich glaube aber, dass die Qualität einer Rechtspflege primär von der Qualität der Organwalter und nicht von der Organisation abhängt. Daher halten sich meine Sorgen in Grenzen.
Und: Sind diese Organwalter, also die Richter und Staatsanwälte, in Ordnung?
Sicher nicht durchgehend. In Umfragen benoten uns Anwälte, Zeugen und Parteien auf einer Fünfer-Skala im Schulnotensystem mit 2,2 oder 2,3. Immerhin werden bei der Siebung vor der Richterausbildung von 100 Bewerbern im Schnitt nur zehn genommen. Da sollte man eigentlich nur Vorzugsschüler haben.
Welcher Art sind die von Ihnen beobachteten Defizite?
Schwarze Schafe wie den Staatsanwalt, der vor 20 Jahren Geld im Weingarten vergraben hatte, gibt es als krasse Einzelfälle. Was zu gelegentlichen Beanstandungen im Gerichtsalltag führt, ist zumeist auf individuelle Überforderung von Richtern zurückzuführen, beispielsweise auf Grund privater Sorgen, die dann die richterlichen Leistungen als reine Kopfarbeit sowohl qualitativ als auch tempomäßig drücken können.
Es werden ja jetzt bei der Richterauswahl auch Psychologen eingeschaltet. Können die diese Defizite überprüfen?
Ich würde bevorzugen, dass man erfahrene Richter damit betraut, Kandidaten an Hand eines längeren Gesprächs zu beurteilen. Da spürt man, ob einer die Dinge rasch versteht und ob er auf verschiedene Gesprächspartner angemessen unterschiedlich eingehen kann. Das entscheidende Kriterium ist, ob ein Richter das Leben, das wir zu beurteilen haben, in möglichst vielen Facetten kennen gelernt hat. Für einen Arbeitsrichter ist es daher sinnvoll, wenn er einmal einen Nachtdienst von 19 bis 7 Uhr Früh gemacht hat, damit er weiß, wie die Belastung ist.
Es wird seit langem für die gesamte Gerichtsorganisation, insbesondere für die Staatsanwaltschaft, diskutiert, ob sie nur noch unabhängigen Strukturen unterstehen soll. Oder ob zumindest das Weisungsrecht weg soll.
Ich war sieben Jahre in erster Instanz Staatsanwalt und habe nie eine Weisungsabhängigkeit gespürt. Aber natürlich besteht die Möglichkeit einer Einflussnahme. Ich glaube aber, dass der Staat bis zu einem gewissen Grad einen legitimen Lenkungsbedarf hat. Wenn man etwa einst beim Justizpalast-Brand die Anklage ein halbes Jahr später in ruhigerer Stimmung eingebracht hätte, wäre vielleicht eine Katastrophe ausgeblieben. Das Korrektiv ist letztlich ohnehin der unabhängige Richter.
In der Causa Lucona ist es aber darum gegangen, dass aus politischen Gründen - der Freundschaft eines Mörders zu prominenten SPÖ-Politikern - lange keine Anklage erhoben worden ist. Da gab es keinen Richter als Korrektiv.
Das war alles andere als befriedigend. Aber die später befassten Staatsanwälte waren beide sehr aktiv dahinter.
Rund um das Stichwort Richternachwuchs gibt es ein auffallendes Phänomen: die rasch zunehmende Verweiblichung der jungen und mittleren Richtergeneration, was etwa in Anwaltskreisen den Vorwurf intensiviert, der Richterjob würde zum bequemen Halbtagsjob umfunktioniert.
Es gibt durchaus Halbauslastungen, um Familie und Beruf vereinbaren zu können. Das bringt für die Gerichtsadministration natürlich enorme Belastungen, bis in die Raumaufteilung hinein.
Der Vorwurf ist ja darüber hinaus auch, dass Richter, die theoretisch voll arbeiten müssten, das nicht tun und dass sie auch nie präsent sind.
Die Erreichbarkeit der Richter für die Parteien ist sicherlich ein Problem. Das kann man aber durch die Bekanntgabe bestimmter Anwesenheitszeiten zufrieden stellend lösen. Ich habe schwierige, aufwendige Sachen immer nachts zu Hause gemacht. Im Gericht gibt es ständig Unterbrechungen. Dass es bei jemandem, der fixe Arbeitszeiten hat, keinen guten Eindruck macht, wenn er einen Richter um zwölf Uhr das Gericht verlassen sieht, ist klar. Man soll aber dabei bedenken, dass er in der Regel ein wesentliches Arbeitspensum mit in den häuslichen Bereich transportiert.
Haben Sie den Eindruck, dass die Kontrollmechanismen der Dienstaufsichtsbehörden ausreichend sind, um Richter, die hinter ihrer Unabhängigkeit Defizite ihres Engagements verbergen, bei den Ohren zu ziehen?
Es gibt kaum einen anderen Beruf, der so transparent ist. Vom Einlangen der Klage bis zur Verlagerung von einem Zimmer ins andere wird im Register alles festgehalten. Da sieht man sofort, wenn etwas länger dauert. Was fallweise nicht funktioniert, sind die Sanktionen der Disziplinargremien, in denen ja Richterkollegen sitzen. Da tun sich sanktionsgeübte Strafrichter erfahrungsgemäß leichter als Zivilrichter. Ich glaube, dass man mit entsprechenden Vorgaben und Aufarbeitungsplänen deutlichere Zeichen setzen und sich justizintern nicht zu verständnisbereit zeigen sollte. Man müsste mehr Mut haben, einem pflichtwidrig auffälligen Kollegen zu sagen: Lieber Freund, das ist nicht der Beruf für dich, du hast nicht die Bereitschaft, an deine Leistungsgrenzen zu gehen. Aber diese Energie bringen die Diszi-plinargremien nur schwer auf.
Es gibt eine andere aktuelle Justizdebatte, nämlich die über eine Reduktion der Gerichte. Eine Instanz soll verschwinden, Landes-, oder Oberlandesgericht, und weitere Bezirksgerichte sollen gesperrt werden.
In größeren Gerichtskomplexen ist die persönliche Begegnung stark eingeschränkt. Eine für kleinere territoriale Bereiche zuständige Einheit vermittelt hingegen das Bewusstsein, dass man individuell behandelt wird. Zu kleine Einheiten bringen aber wieder organisatorische Schwierigkeiten.
Und soll es weiter Landes- wie auch Oberlandesgerichte geben?
Die Oberlandesgerichte sind die Träger der Justizverwaltung. Sie sind die Einheiten, wo alle Fäden zusammenlaufen und worauf man nur schwer verzichten kann. Eine Verlagerung auf die Landesgerichte würde wieder administrative Verdoppelungen bringen.
Der OGH-Präsident wird ohne Anhörungsrecht der Belegschaft durch den Justizminister bestellt. Dadurch entsteht der Eindruck politischer Einflussnahme.
Das ist ein echtes Defizit und kritikwürdig. Wenn jemand schon Fahnenträger für alle Richter sein darf, wäre es gut, dass von dort vorher Signale eingeholt werden.
In Europa gibt es jetzt auch einige Elemente des Zusammenwachsens im Justizbereich.
Da ist sehr viel in Bewegung, auch beim EU-Haftbefehl, dessen Anwendung freilich sehr stark von nationalen Interessen geprägt ist. Gewisse Sachbereiche sind bei der Integration schon sehr weit: Etwa das Wettbewerbsrecht oder Handelsrecht. Ich bin überzeugt, dass es spätestens in fünf Juristengenerationen nur noch einen europäischen Juristen geben wird und die nationalen Rechtszäune ganz niedrig sein werden.
Gibt es Länder, mit denen die Kooperation im Bereich der Justiz schlechter funktioniert als bei anderen?
Der Quantensprung zwischen kontinentaleuropäischem und angloamerikanischem Rechtssystem kann ein Hindernis sein beim Entsprechen von Rechtshilfeersuchen. In Italien hängen die Probleme wieder mit den personellen Zuständen zusammen.
Es gab vor kurzem ein Urteil, in dem die Geburt eines behinderten Kindes als Schadensfall gewertet worden ist, für den ein Arzt zu zahlen hat. Ist das okay?
Ich meine, dass die Kategorien des Schadensersatzrechts hier versagen. Ich würde eher das französische Modell bevorzugen, wo man solch schwerwiegende Ereignisse nach einer Gesetzesnovellierung nunmehr über die gesellschaftliche Solidarität und nicht über das Schadenersatzrecht abwickelt. Die Anwendung des Schadenersatzrechtes führt dazu, dass Versicherungen für Ärzte und damit die Behandlungen immer teurer werden.
Johann Rzeszut, geboren am 5. März 1941 in Wien, wollte als Kind Fußballer werden. Geworden ist es dann aber eine Bilderbuchkarriere als Strafrechtler: Zuerst Zivilrichter in Mödling, Staatsanwalt und Generalprokurator in Wien, danach Senatspräsident und seit Jänner 2003 schließlich Präsident des Obersten Gerichtshofes (OGH). Bei seinem Amtsantritt warnte er, dass sich ständige Änderungen des Strafrechts kontraproduktiv auf die Akzeptanz der Gesetze auswirken könnten. "Unsere Aufgabe ist es, in den Urteilen die ethische Statik des Gesetzes zu verdeutlichen - und zu erklären, welchen Sinn sie hat", erklärte er damals.
Nach vier Jahren an der Spitze des Höchstgerichts geht Rzeszut, der in seiner Freizeit intensiv Sport betreibt und exzellent Klavier spielt, zum Jahreswechsel in Pension. Nachfolgerin wird die bisherige OGH-Vizepräsidentin Irmgard Griss. Sie begann ihre Karriere am Bezirksgericht für Handelssachen in Wien. Die 1946 geborene Steirerin ist erst seit 2006 Vizepräsidentin des OGH, davor war sie Senatspräsidentin. Vor ihrer Richterkarriere hatte sie als freie Mitarbeiterin im ORF-Landesstudio Steiermark gearbeitet.