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Johannes Grützke

Von Oliver Bentz

Reflexionen

Der deutsche Maler Johannes Grützke erklärt, warum die Lust am Malen nicht zu erklären ist, bekennt sich zur Sehnsucht nach Prächtigkeit und hält von den klassischen graphischen Techniken mehr als von Computerkunst.


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Johannes Grützke.
© © Bentz

"Wiener Zeitung": Herr Grützke, warum malen Sie?Johannes Grützke: Das ist eine wahnsinnig einfache Frage, die ich aber nicht beantworten kann. Eigentlich ist das Malen eine absurde Tätigkeit. Ich habe mir - gerade als Lehrer an der Akademie - öfter gedacht: Wenn einer vom Mars käme und sähe, dass da im Aktsaal eine nackte Frau in der Mitte steht und einige drum herum machen irgendwelche Zeichen - was würde der sich denken? Die Absurdität dieser Tätigkeit ist vollkommen, wenn man sie mit einem Marsauge sieht. Ich weiß wirklich nicht, warum ich das eigentlich mache. Ich wundere mich selber.

Wie sind Sie zur Kunst gekommen?

Ich bin mit meiner Mutter oft hinausgefahren zum Schloss Rheinsberg - und da haben wir dann gemeinsam aquarelliert. Von frühester Jugend an. Dass ich Maler werden wollte, habe ich aber nicht zu denken gewagt. Weil man ja einen Brotberuf haben muss. Und das mit der Malerei ist alles andere als ein Brotberuf. Mein Vater hatte ein Geschäft, das ich eigentlich übernehmen sollte: "Glas und Spiegel" - das hatte er schon von seinem Vater übernommen. Mein Vater wollte eigentlich Geiger werden, durfte das aber nicht.

Komischerweise bin ich eigentlich Maler geworden, weil ich das Abitur nicht gemacht habe. Das war wirklich ein Glücksfall, dass ich das nicht geschafft habe. Ich bin mehrmals sitzen geblieben, und als mich meine Mutter dann fragte, was ich eigentlich machen wolle, war das der Anstoß, die Schule zu verlassen. Ich bin dann auf die Werkkunstschule gegangen, habe nebenbei auf dem Bau gearbeitet, um etwas dazu zu verdienen. Wir waren ja arm. Ich wechselte dann ohne Probleme zur Hochschule und habe, nachdem ich Anfang der sechziger Jahre Kokoschkas "Schule des Sehens" in Salzburg besucht hatte, innerhalb der Hochschule die Abteilung getauscht: von der "angewandten" zur "freien" Kunst.

Sie besuchten 1962 Kokoschkas Sommerakademie in Salzburg. Was war das damals dort für eine Atmosphäre, was ist Ihnen davon in Erinnerung geblieben?

Kokoschka war ein ganz charmanter Mann. Ich habe damals noch viel mehr von ihm gehalten als heute. Der war ganz wunderbar. Er hat sich sehr für seine Studenten interessiert und immerfort deren Bilder angesehen und behutsam Kritik geübt. Es gab da übrigens nur Akte. Ich war 25 Jahre alt, als ich bei ihm in der Sommerakademie war - und 25 Jahre später, mit 50, war ich dort Lehrer. Das ist eine biographische Symmetrie. Ich habe dann eine Oskar-Kokoschka-Gedenkdozentur betrieben, natürlich mit Akten, hatte ganz viele Schüler, die, glaube ich, nicht alle mit mir zufrieden waren.

Welche Künstler schätzen Sie besonders? Von welchen haben Sie etwas gelernt?

Beeinflusst haben mich wahrscheinlich alle. Dabei kenne ich gar nicht alle. Bei der großen Jury, die damals über das Bild für die Frankfurter Paulskirche zu entscheiden hatte, fragte mich der Kunsthistoriker Werner Hofmann, ob ich das Gemälde "Ein Begräbnis in Ornans" von Gustave Courbet kenne. Ich antwortete ihm, dass ich das Bild natürlich kenne, aber dass es mich auch beeinflusst hätte, wenn ich es nicht kennen würde. Das hat Werner Hofmann auch gleich eingesehen, der weiß das ja selber. Das fand ich ganz wunderbar. Alles, was da ist, hat Einfluss, ob man es kennt oder nicht. Da kann man machen, was man will. Ob man sich dagegen stemmt oder nicht, ob man es versteht oder missversteht, das spielt dabei keine Rolle. Und dann gibt es natürlich tatsächlich Maler, die ich mir gerne anschaue, etwa Rubens, Velázquez oder Caravaggio.

Sie riefen 1965 zusammen mit Matthias Koeppel, Manfred Bluth und Karlheinz Ziegler die "Schule der Neuen Prächtigkeit" ins Leben. Was war damals Ihr Antrieb?

Die "Allgemeine Kläglichkeit" war und ist eigentlich der Antrieb - ein unerhörtes Missbehagen, vor allem an der Architektur. Wir denken immer, wir müssten auch einen positiven Antrieb haben. Aber es fällt uns nichts ein, das ist das Schlimme. Der Antrieb ist eigentlich eine Sehnsucht: die Sehnsucht nach Prächtigkeit. Wenn ich durch Nürnberg gehe, da gibt es an den alten Häusern Schnörkel, die völlig sinnlos sind. Heute gibt es das nicht mehr, der Schnörkel ist nicht mehr aktuell. Das Bauhaus hat der Armut die Philosophie geliefert. Die Bauhäusler sagen, die Form folgt der Funktion. Sie vergessen aber vollkommen die Repräsentanz, die psychischen Funktionen werden völlig vergessen und missachtet. Und dann sieht das eben so scheußlich aus, wie es heute aussieht. Kahl und billig - das ist wirklich erbärmlich. So billig haben sie im Bauhaus gar nicht gearbeitet. Aber der Effekt ist Billigbau, gestapelte Baracken, Notunterkünfte. Das war nach dem Krieg vielleicht nötig. Irgendwann sollte das aber aufhören. Nur hört es nicht auf.

Sie haben sich auch intensiv dem Theater zugewandt und für Produktionen von Peter Zadek Bühnenbilder geschaffen. Was ist für einen Maler die besondere Herausforderung bei dieser Arbeit?

Als mich Zadek damals gefragt hat, ob ich das machen wolle, dachte ich mir, dass ich eigentlich selber einen Bühnenbildner bräuchte. Ich choreographiere den Vordergrund, gruppiere also Leute - und dann bräuchte ich eigentlich einen, der mir den Hintergrund macht. Das ist ein Problem. Im Theater gibt es aber eigentlich keine Hintergründe. Ich habe ja Bühnenprospekte gemacht, von Anfang an. Das erste Stück, das ich mit Zadek gemacht habe, die Fallada-Revue "Jeder stirbt für sich allein", war gleich das prachtvollste. 15 Prospekte, 15 Meter breit, 15 Meter hoch, das war unglaublich. Die habe ich alle selber gemalt. Solche Bilder sind wie Schauspieler: Sie spielen mit, sind keine Hintergründe mehr, sondern richtige Malerei. Das sind Bilder, die als Personen mitspielen und die Schauspieler manchmal richtig erschrecken. In Paris hatte ich für Shakespeares "Maß für Maß" - da spielte die wunderbare Isabelle Huppert die Isabella - riesige Alpenpanoramen geschaffen. Die hat Zadek bei den Proben weghängen lassen, denn die Schauspieler konnten nicht mehr, die fühlten sich von ihnen erdrückt. Ich bin da vielleicht etwas zu weit gegangen. Aber Zadek hat sich nicht beschwert. Er hat es dann doch geschafft, das Bühnenbild bei seinen Leuten durchzusetzen.

"Eigentlich ist das Malen eine absurde Tätigkeit . . . Ich weiß wirklich nicht, warum ich das mache." Johannes Grützke im Gespräch mit "Wiener Zeitung"-Mitarbeiter Oliver Bentz.
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Sie widmen sich auch einem Sujet der Kunst, das lange nicht en vogue war: dem Porträt. Was treibt Sie an, sich gerade mit dem menschlichen Porträt zu beschäftigen?

Mich treibt nichts dazu an, ich mache sowieso nichts anderes. Immer wenn Menschen vorkommen, entsteht ein Porträt - auch wenn es ein Aktmodell ist. Ich male alle Modelle persönlich - und nicht unpersönlich. Ich mache nichts anderes als Porträts, auch wenn ich nur die Füße male. Warum muss es immer das Gesicht sein?

Was macht einen Menschen für Sie so interessant, dass Sie ihn malen wollen?

Ich male alles. Es gibt nichts Uninteressantes, das kann ich mir gar nicht denken. Es gibt die Legende, etwa von Otto Dix, dass ein Maler sagt, "den muss ich unbedingt malen". Daran glaube ich nicht. Ich male einfach. Von müssen keine Spur. Das wird gelassen betrieben.

Neben der Malerei wählen Sie als künstlerische Technik auch die Radierung oder die Lithographie und haben ein großes graphisches Werk vorzuweisen. Was fasziniert Sie an dieser Technik, die ja heute nicht besonders in Mode ist?

Wenn ich zu meinen Lithodruckern in die Werkstatt gehe, dann treffe ich da auch viele Leute, die mit Computern arbeiten. Das sieht man den Arbeiten auch an. Die können die graphischen Techniken gar nicht mehr und wollen sie auch gar nicht können. Was die machen, das sind alles zitierte Fotografien.

"Grützke mehrfach selbst", Lithographie aus dem Jahr 1986.
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Nach Fotos male ich nicht, das geht gar nicht. Die Vereinnahmung einer Sache funktioniert nur mit dem Zeichenstift. Das Zeichnen ist ein Weg der Beobachtung, egal, ob man es nach Modell oder aus dem Kopf macht. Das, was man zeichnet, wird einem durch das Zeichnen inne - und das ist was wert. Das entgeht den anderen, die haben dann Pech gehabt. Die Lust am Zeichnen ist doch an sich ein wirklicher Wert. Warum soll man das dann irgendwelchen Mechaniken überlassen? Das hat vielleicht einen Chic, ich aber arbeite nur für mich, nicht für andere. Ich will auch keine Wirkung erzielen. Ich will mich selber überraschen.

Kommen wir zu einer weltweit bekannten Arbeit von Ihnen: dem "Zug der Volksvertreter" in der Frankfurter Paulskirche. Was bedeutet dieses in den Jahren 1987 bis 1991 entstandene Werk, für das Sie auch heftig kritisiert wurden, heute im Rückblick für Sie?

Ach, dasselbe wie am ersten Tag. Das Bild sieht doch aus, als ob es dort schon immer gehangen hätte. Es ist sehr angenehm, das zu bemerken. Das kann man zwar auch nachteilig verstehen, aber ich sehe es positiv. Eine Zeit lang gab es nur wirklich schlechte, rasende Kritiken. Aber das hat mich amüsiert. In der Bildenden Kunst sind Kritiken kein Wert. Anders als im Theater oder der Musik. Da kommen dann die Leute nicht ins Theater. Das Publikum in der Bildenden Kunst gibt mehr aus, als nur eine Eintrittskarte. Das sind höhere Werte. Wenn sich ein Betrachter für ein Bild entschieden hat, ist er Partei. Der liest dann die Kritiken genauso wie der Künstler - und findet dann wie der Künstler, dass der Kritiker spinnt. Schlechte Kritiken können gar nicht wirkungsvoll sein.

Sie lesen die Kritiken?

Klar, mit großem Vergnügen. Besonders eine, die ich immer gerne erwähne, weil sie die größten Schimpfwörter versammelt. In jedem Satz ein Schimpfwort, das Ganze gipfelte in "Schweißfuß-Tintoretto". Ich habe den Schreiber dann später kennengelernt. Der konnte sich an nichts mehr erinnern. Aber "Schweißfuß-Tintoretto", das bedeutet eigentlich nichts, ist nur ein Negativum, weiter nichts, ohne jede Aussage. Das hat mich eher amüsiert als gekränkt.

Ist es für Sie ein Wagnis, neue Bilder für Ausstellungen aus der Hand und dem Auge der Öffentlichkeit preisgeben zu müssen?

Das ist es für mich gar nicht. Ich kenne aber auch andere Typen. Karlheinz Ziegler, der die "Schule der neuen Prächtigkeit" mitgründete, hat seine Bilder zum Beispiel absichtlich unvollendet gelassen, damit sie ihm keiner wegnimmt. Die Leute standen trotzdem bei ihm Schlange. Aber halt nicht das Publikum, das er gerne gehabt hätte - er war Trotzkist. Seine Kunden waren aber bürgerliche Leute. Das war ihm gar nicht recht. Deshalb hat er sein Geld auch in einer Gipsformerei verdient und dort Nilpferde angemalt - die sollen übrigens sehr gut sein - oder die Nofretete. Und seine Bilder hat er unterm Bett gehortet. Vor zwei Jahren ist er im Heiligensee ertrunken, und erst jetzt hat man die Bilder gefunden.

Sie wurden in Berlin geboren, haben einen Großteil Ihres Lebens dort verbracht und die Entwicklung der Stadt über Jahrzehnte beobachten können. Zurzeit scheint Berlin - betrachtet man die Berichte in den einschlägigen Medien - die "Kunsthauptstadt" schlechthin zu sein. Wie sehen Sie das?

Davon merke ich nichts. Ich komme aus meinem Atelier gar nicht raus. Ich bemerke nichts, auch nicht von der Entwicklung der Stadt. Ich lebe so vor mich hin. Ich komme aber auch nicht zu meiner Arbeit, weil dauernd was dazwischen kommt. Die Bürokratie hat so einen Umfang eingenommen. Meinen Schreibtisch müssten Sie mal sehen. Ich finde nichts mehr, das ist wirklich katastrophal. Aber so ist das eben. Ich nehme nichts wahr, obwohl ich wiederum alles wahrnehme. Man muss ja gar nicht hingucken. Das ist wie mit dem erwähnten Bild "Ein Begräbnis in Ornans" von Courbet. Man muss es nicht kennen, um sich auszukennen.

Johannes Grützke.
© © Bentz

Ich hatte einmal ein Gespräch mit Oswald Wiener. In einem Künstlerrestaurant, in dem die Frau Wiener kochte. Und da war einer der "Wilden", der Immendorff, der ja der pubertärste von denen allen war. Mit dem kam ich dort komischerweise ins Gespräch. Da war gerade im "Haus am Waldsee" in Berlin diese Ausstellung, in der der Begriff "Heftige Malerei" kreiert werden sollte und kreiert wurde. Der war ganz entsetzt, dass ich diese Ausstellung nicht gesehen hatte. Da sagte ich zu dessen Beruhigung: "Das macht doch nichts. Ich weiß aber, was ihr macht. Die Luft ist durchlässig. Das kommt einem irgendwie, auch wenn man es nicht gesehen hat, in den Kopf." Aber das wollte er mir nicht glauben.

Haben Sie als echter Berliner auch eine Beziehung zu Wien?

In Wien gelte ich als Maler der 68er, als Kommentator des damaligen Geschehens. Dort denkt man, danach wäre nichts mehr gekommen. Aber ich hatte in Wien auch immer Ausstellungsbeteiligungen, war auch befreundet mit Alfred Hrdlicka, den ich immer besucht habe, genauso wie er mich in Berlin besucht hat.

Was ist die besondere Gabe von Künstlern, die andere Menschen nicht haben?

Ich habe einmal ein Pamphlet verfasst, mit dem Ziel, den Begriff "Kunst" abzuschaffen. Keiner weiß doch, was Kunst ist, das hat noch nie jemand gewusst, und wird auch nie jemand wissen. Und wenn es jemand wüsste, dann würde ein Künstler sofort dagegen angehen, weil das ja dann ein Prinzip wäre. Gesetze sind zum Brechen da - und nicht zum Einhalten. Da man nicht weiß, was Kunst ist, eignet sie sich sehr gut zum Betrug. Die Malerei ist auch Betrug - Augenbetrug. Deshalb kann ich mit dem Begriff "Künstler", wenn er über die Berufsbezeichnung hinaus geht, nichts anfangen. Wenn der Begriff möglicherweise so etwas wie "göttliche Erscheinung" bedeuten soll, ist er Unfug. Ich bin Maler und male Gemälde. Das muss reichen. Das Wort "Kunst" ist nur zur Verschleierung da.

Oliver Bentz, geboren 1969, arbeitet als Kulturpublizist und Journalist in Speyer (Deutschland).

Zur Person

Johannes Grützke, geboren 1937 in Berlin, studierte von 1957 bis 1964 Malerei an der dortigen Hochschule für Bildende Künste. Er war Meisterschüler von Peter Janssen, ab 1962 zusätzlich Schüler von Oskar Kokoschka in Salzburg in dessen Sommerakademie.

1965 rief Grützke zusammen mit den Malern Matthias Koeppel, Manfred Bluth und Karlheinz Ziegler die "Schule der Neuen Prächtigkeit" ins Leben. Nicht nur der Name, den sich die Künstlergruppe gegeben hatte, war ein Affront, auch das ästhetische Programm: Es war verstörend, in einer Zeit, die sich scharf gegen den "Realismus in der Kunst" wandte, gegenständlich zu malen. Die Kraft der Provokation und die Schärfe ihres satirischen Blickes auf die gesellschaftliche Wirklichkeit haben sich Grützke und die "Schule der Neuen Prächtigkeit" in ihrer Malerei, in ihren Theateraufführungen und skurrilen Selbstinszenierungen durch alle Zeitströmungen hindurch bis heute erhalten.

Nachdem Grützke 1976 für ein Jahr Gastdozent an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg war, entwarf er ab 1979 unter der Regie von Peter Zadek am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zahlreiche Bühnenbilder und war dort von 1985 bis 1989 auch als künstlerischer Berater tätig.

1987 gewann Grützke den Wettbewerb der Stadt Frankfurt am Main für das kolossale Wandbild zu "Demokratie und Revolution" in der Frankfurter Paulskirche. Er konzipierte ein Gemälde von 32 Metern Länge und 3 Metern Höhe, das er von 1989 bis 1991 ausführte.

Von 1992 bis 2002 war Grützke Professor für Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Johannes Grützke ist Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg. Im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg wurde heuer das Werk des Künstlers in einer großen Retrospektive in all seinen Facetten präsentiert.