Der aus der Bronx stammende Priester John Duffell über die römisch-katholische Kirche in den USA, ihre problematische Nähe zu den Republikanern, die Missbrauchsfälle - und über seine Hoffnung, dass Frauen eines Tages Priester werden können.
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"Wiener Zeitung": Pater Duffell, wie haben sie den zehnten Jahrestag der Anschläge auf New York erlebt?
John Duffell: Weil ich arbeiten musste, konnte ich nicht mit meiner Familie an der Zeremonie am Ground Zero teilnehmen. Aber wir haben nachher in der Kirche auf der East Side, wo mein Neffe bis zu seinem Tod regelmäßig hingegangen ist, eine Messe nur für ihn abgehalten. Das neue Denkmal hat meine Angehörigen sehr beeindruckt, ebenso, wie die ganze Zeremonie abgelaufen ist. Die Gedenkfeier war eine sehr würdige Angelegenheit. Sie dürfen nicht vergessen: Es gab so viele Menschen, deren sterbliche Überreste in den Trümmern des World Trade Center nie gefunden wurden. Jetzt gibt es endlich einen Ort, an dem ihre Angehörigen ihr Grab besuchen können. Ein Ort, an dem für immer die Namen der Opfer stehen werden.
Die USA haben sich seit den Anschlägen verändert, gesellschaftlich wie politisch. Welche Lehren haben die Amerikaner aus 9/11 gezogen?
Ich hoffe, dass wir etwas daraus gelernt haben, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Kurz nach den Anschlägen hat es ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben. Davon ist leider nicht viel übrig geblieben, weil die damalige Regierung, allen voran der damalige Präsident George W. Bush, Entscheidungen getroffen haben, die das Land in der Folge tief gespalten haben. Dass man etwas gegen die Taliban in Afghanistan unternehmen musste, haben die meisten Menschen in Amerika noch verstanden. Den Krieg gegen den Irak aber nicht mehr. Ich hatte damals - wie viele andere - das Gefühl, dass es Bush junior diesbezüglich mehr darum ging, den Job zu erledigen, den sein Vater Anfang der Neunziger nicht zu Ende gebracht hat.
Extremistische Elemente in den USA wollten die Kriege, die auf 9/11 folgten, zu Glaubenskriegen hochstilisieren, zu einem Showdown zwischen Christentum und Islam. Welche Rolle spielt die Religion in diesem Konflikt wirklich?
Der damalige wie der heutige Präsident, Barack Obama, haben von Anfang an betont, dass es nicht um einen religiösen Konflikt geht - und es ist auch keiner. Man darf bei aller teilweise berechtigten Kritik an den USA nicht vergessen, dass diese Nation auch auf dem Prinzip der religiösen Toleranz aufgebaut ist. Es gab auch hierzulande immer wieder Konflikte, aber keine Glaubenskriege wie in Europa und im Rest der Welt. Das war nicht leicht, jede Generation musste diese Toleranz neu lernen und ihre Grenzen erweitern.
Ich gebe ihnen ein Beispiel: Als ich ein junger Mann war, war es noch für viele Menschen in New York schockierend, wenn etwa irischstämmige und italienischstämmige Amerikaner untereinander geheiratet haben. Die erste Hochzeit, kurz nach meiner Priesterweihe in den Sechzigerjahren, war in Hell’s Kitchen (einem berüchtigten Viertel auf Manhattans West Side, Anm.). Ich habe einen irischstämmigen Amerikaner und eine Puertoricanerin verheiratet - das war damals ein Riesenereignis, fast unerhört. Wir müssen gestern wie heute lernen, was für ein Riesengeschenk es ist, in einem Land zu leben, das so viele verschiedene Kulturen, Mentalitäten und Persönlichkeiten beherbergt. Es gibt heute trotz aller Kritik kaum andere Länder, in denen das Zusammenleben so gut funktioniert wie in Amerika.
Die Katholiken in den USA sind eine Minderheit, die Anhänger der protestantischen Kirchen bilden die große Mehrheit (siehe Infokasten unten). Welche spezifischen Probleme ergeben sich aus dieser Stellung?
Das größte Problem heutzutage ist, dass die Führung der katholischen Kirche - die Bischöfe - nicht geschlossen auftritt. Unter ihnen herrscht große Uneinigkeit über die Antwort auf die Frage, mit welchen Mitteln man welche Ziele erreichen kann und soll. Die Konflikte sollten viel mehr hinter den Kulissen ausgetragen werden als davor. Ich persönlich finde, dass die Würde des Menschen bei jeder Diskussion, bei jeder Entscheidung über allem stehen sollte. Jeder Mensch ist ein Geschenk Gottes, egal, welche sexuelle Orientierung, welche politischen Ansichten er oder sie hat - und egal, ob man seine oder ihre sonstigen Meinungen teilt oder nicht. Angesichts mancher Statements von einzelnen Bischöfen zweifle ich daran, ob das in der Kirche alle so sehen. Es gibt zu viele Urteile und zu wenig Respekt.
Wir sollten für die pluralistische Gesellschaft dankbar sein, in der wir leben und den Menschen nicht in dem Sinn vorschreiben, wie sie leben sollen, indem wir ihnen unsere Grundsätze ins Gesicht schreien. Ich bin etwa enttäuscht darüber, dass es Priester gibt, die Geschiedenen oder Frauen, die abgetrieben haben, die Kommunion verweigern. Ich bin selbst gegen Abtreibung. Ich glaube, dass sie falsch ist. Prinzipiell geht es aber darum, über die Position der Kirche zu reden: den grundsätzlichen Schutz des menschlichen Lebens. Ich glaube nicht, dass wir etwas an den Abtreibungsgesetzen in diesem Land ändern werden, solange wir diejenigen Menschen verdammen, die abtreiben. Wir sollten vielmehr Wert darauf legen, dass die Menschen unsere Position verstehen, und dass sie offener und vor allem entspannter darüber reden.
Die USA hatten erst einen katholischen Präsidenten: John F. Kennedy, der im Jahr 1960 gewählt und drei Jahre später ermordet wurde. Die USA sind ein laizistischer Staat, tatsächlich nimmt die Religion aber starken Einfluss auf das politische Geschehen. Wie gefährlich ist diese Entwicklung? Und inwiefern soll die katholische Kirche auf die Politik Einfluss nehmen?
Es sollte die Pflicht jedes gläubigen Katholiken sein, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Johannes Paul II., der Vorgänger des jetzigen Papstes, hat in dieser Hinsicht viel vorgelebt, bei aller berechtigten Kritik an ihm. Die Frage ist, in welcher Form und vor allem in welchem Stil sich das am besten bewerkstelligen lässt. Politisch besteht das Dilemma in den USA heute darin, dass sich die meisten der katholischen Priester und Bischöfe auf Gedeih und Verderb der Republikanischen Partei ausgeliefert haben. Mit anderen Worten: Wir sind berechenbar geworden. Ich glaube dagegen, dass Katholiken in den USA genauso die Demokratische Partei unterstützen und wählen können. Die Republikaner nehmen für sich in Anspruch, die einzige Partei zu sein, die das Recht auf Leben schützt. Davon abgesehen, dass ich mir alles andere als sicher bin, ob das stimmt - was die Abtreibungsfrage angeht, wird alles auf die Frage reduziert, ob man dafür oder dagegen ist. Aber in Wirklichkeit reicht die Antwort auf Fragen wie diese viel weiter. Wenn man - wie ich - nicht will, dass Frauen abtreiben, dann müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass sie sich, wenn sie sich dafür entscheiden, ein Kind zu bekommen, nicht vor Armut fürchten müssen - oder davor, dass sie ihrem Kind keine ordentliche Ausbildung bieten können. Die Demokraten sollten deshalb genauso viele Mitglieder haben, die für das Recht auf Leben einstehen, wie die Republikaner.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben in den USA wie in Europa zahlreiche durch katholische Priester begangene Missbrauchsfälle die Kirche erschüttert. Was ist seitdem passiert?
In Amerika wurden die ersten großen Missbrauchsfälle bereits in den Achtzigerjahren bekannt. Damals reagierte die Kirchenführung mit der Einführung eines Programms für angehende wie bereits aktive Priester, das sich offensiv mit der Problematik auseinander setzte und an das sich seither die meisten gehalten haben. Trotz aller Bemühungen gab es leider immer wieder neue Fälle; und es ist mit nichts zu entschuldigen, wenn gewisse Grenzen überschritten werden. Unterbewusst hat sich innerhalb der amerikanischen Priesterschaft sicher viel geändert in den vergangenen Jahrzehnten. Viele sind vorsichtiger, manche extrem vorsichtig geworden. Was soll ich Ihnen sagen? Zu mir kommen täglich Leute, die mich umarmen, Kinder, die in meinen Schoß springen. Ich glaube, dass es heute ein breites Bewusstsein dafür gibt, wo die Grenzen liegen. Ich hoffe es zumindest.
Die "Himmelfahrtskirche", der sie vorstehen, gilt als extrem liberal. Sie laden homosexuelle Gruppen in Ihre Pfarre ein, stellen den Anonymen Alkoholikern Ihre Räume zur Verfügung, lesen Messen für Obdachlose. Für viele Katholiken passt ein derartiger Einsatz für Minderheiten nicht mit der offiziellen Position der Kirche zusammen.
Es gibt für mich keinen Widerspruch zwischen dem, wofür die Kirche steht, und dem, was ich tue.
Hatten Sie jemals Probleme mit ihren Vorgesetzten, was Ihren Stil und Ihre Aktivitäten angeht?
Nein. Einmal hat mich ein Bischof angerufen und sich über irgend etwas beschwert, das ich schon wieder vergessen habe. Aber das ist auch schon wieder ein paar Jahre her. Das war alles.
Sollen Frauen das Recht bekommen, Priesterinnen zu werden?
Die Position der Kirche in dieser Frage ist hinlänglich bekannt. Ich glaube, dass sich diese Position ändern kann. Ich hoffe jedenfalls, dass ich es noch erleben werde, dass Frauen Priester werden können. Ich halte es für möglich und wünschenswert.
Seit sechs Jahren ist der Deutsche Joseph Aloisius Ratzinger alias Papst Benedikt XVI. das Oberhaupt der katholischen Kirche. Wie zufrieden sind Sie mit ihm?
Er ist zweifellos ein interessanter Mensch mit guten Ansätzen, was seine Vorstellungen von der sozialen Rolle angeht, die die Kirche im 21. Jahrhundert spielen soll. Hätte es bessere Kandidaten für den Job gegeben? Vielleicht. Aber das lässt sich im Nachhinein immer leicht sagen. Das Lustige war, dass ich vor seiner Wahl im Rahmen von einschlägigen Diskussionen immer gesagt habe, dass wir einen neuen Benedikt brauchen. Als Ratzinger dann gewählt wurde, war ich überrascht und gleichzeitig ein bisschen deprimiert - vor allem über den Namen, den er gewählt hat. Benedikt XV. (der Italiener Giacomo Paolo Giovanni Battista della Chiesa, Papst von 1914 bis 1922) war der Nachfolger des sehr konservativen Pius X (des Italienera Giuseppe Melchiorre Sarto, 1903 bis 1914, Anm.) und ein sehr moderner Papst. Naja. Insofern besteht ja noch Hoffnung.
Katholiken in den USA
Die ersten Katholiken in Nordamerika waren spanische Missionare, die Ende des 15. Jahrhunderts mit den europäischen Kolonialherren ins Land kamen. Ihr Wirken war nicht von Erfolg gekrönt: Im Gegensatz zu Zentral- und Südamerika wollten weder die Ureinwohner noch die Zuzügler aus Europa von den Lehren des Vatikan behelligt werden. Neue Welt, neue Glaubensrichtungen: Zum Zeitpunkt der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 stellten die Katholiken lediglich 1,6 Prozent der Bevölkerung der neuen Na- tion. Einen Boom erlebte die Kirche erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, als Millionen Europär, allen voran Iren und, kurze Zeit später, Italiener, vor Hunger und Not in die Vereinigten Staaten flüchteten und die katholische Kirche zur größten Religionsgemeinschaft des Landes machten.
Heute gehen in den USA rund 41.500 Priester ihrem Geschäft nach, die über rund 68,5 Millionen Gläubige wachen, das sind rund 22 Prozent der Gesamtbevölkerung. In absoluten Zahlen leben nur in Brasilien, Mexiko und den Philippinen mehr Menschen katholischen Glaubens.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Zahl der Mitglieder der katholischen Kirche in den USA wieder im Steigen begriffen, was vor allem an der Zuwanderung aus Zentral- und Südamerika liegt: die Latinos stellen heute ein rundes Drittel aller katholischen US-Bürger.
Zur Person
Reverend John Duffell ist ein Berufener, und viel von dem, was er in seinem Leben gesehen und gehört hat, führt er auf diese Eigenschaft zurück. Schon als Teenager wollte der 1943 in der Bronx in eine neunköpfige Familie hinein Geborene nichts anderes als Priester der römisch-katholischen Kirche werden. "Weil ich die Welt verändern wollte. Und weil ich geglaubt habe - und immer noch glaube-, dass ich sie in diesem Beruf am effektivsten verändern kann. Und deswegen bin ich manchmal auch sehr von dem enttäuscht, was heute so alles mit ihr und in ihr passiert."
Unter den Pfarrern der Vereinigten Staaten ist John Duffell so etwas wie ein Star, um den sich zahlreiche Legenden ranken: Unter anderem soll er das Vorbild für den von Robert De Niro im Missbrauchsdrama "Sleepers" von 1996 dargestellten Priester sein, der einen Meineid begeht, um seinen ehemaligen Schützlingen höhere Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (was Duffell ebenso bestreitet wie die Behauptung, dass "Sleepers" auf einer wahren Begebenheit basiere); oder das für Edward Norton in "Keeping the faith" von 2000, in dem es um einen Pfarrer geht, der sich verliebt (und in dem sich Duffell in einer kleinen Szene selber spielt); auch wird behauptet, dass die "Church of Ascension" ("Himmelfahrtskirche") auf der Upper West Side von Manhattan, die rund 1700 Mitglieder zählt, vor allem dank ihres Vorstehers eine der höchsten Zuwachsraten an Kirchgängern in New York verzeichnet (was Duffell weder bestätigt noch widerlegt).
Wie er das schafft in einer Zeit, in der sich in den USA wie in Europa jedes Jahr abertausende Gläubige von der Kirche lossagen? "Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich versuche, jeden Menschen so zu nehmen, wie er ist. Egal, wo er herkommt, welche Hautfarbe, welche sexuelle Orientierung und welche politische Haltung er hat." In Taten stellt sich diese Maxime so dar: Duffell lässt für die in der Regel armen, des Englischen nicht mächtigen Migranten aus der Nachbarschaft Gottesdienste auf Spanisch lesen. Er stellt homosexuellen Gruppen die Kirchenräume in der 107. Straße ebenso für Diskussionen zur Verfügung wie den Anonymen Alkoholikern, liest Messen für Obdachlose und macht keinen Unterschied zwischen legalen und illegalen Einwanderern.
Das Gespräch mit dem Priester, der sein ganzes Berufsleben an der Ostküste verbracht hat, fand kurz nach dem zehnten Jahrestag der Terroranschläge auf New York und Washington D.C. statt. Duffell verlor am 11. September 2001 in einem der Türme des World Trade Center einen Neffen. Sean Thomas Lugano arbeitete im 88. Stockwerk des Nordturms, als der zweite Flieger einschlug. Er war 28 Jahre alt.
Klaus Stimeder, geboren 1975 in Schärding/Inn, war Gründer und Herausgeber des Monatsmagazins "Datum" und lebt nun als Autor und Journalist in New York.