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Der britische Premier will den Abgeordneten die Chance nehmen, einen EU-Austritt ohne Abkommen zu verhindern. Damit stellt Johnson das demokratische Selbstverständnis des Landes auf den Kopf, sagt Verfassungsjurist Jo Murkens.
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"Wiener Zeitung": Premier Boris Johnson will das Parlament ab 12. September für vier Wochen schließen. Damit bliebe den Abgeordneten wenig Zeit, um einen No-Deal-Brexit zu verhindern. Stehen wir vor dem Ende der Demokratie in Großbritannien?Jo Murkens: Es wäre so, würde das Parlament ausgehebelt - zumindest für diesen Zeitraum. Schaltet Johnson das Parlament aus, um sich als Autokrat zu inszenieren, der für das Volk spricht, ist das nicht demokratisch. Es wäre aber nicht das absolute Ende der Demokratie.
Ist eine Parlamentspause ganz normal, wie die Regierung nun behauptet? Tatsächlich geschah das zuletzt vor zwei Jahren.
Dass das Parlament in die Pause geschickt wird, ist normal, aber es geht um den Zeitpunkt und um die Dauer. Das Parlament für mehrere Wochen auszusetzen, noch dazu so kurz vor dem geplanten Brexit am 31. Oktober, ist außerordentlich. Kommt das Parlament am 3. September aus der Urlaubspause, bleiben den Abgeordneten nur ein paar Tage, um sich zusammenzuraufen und einen No-Deal-Brexit zu vermeiden.
Eine Mehrheit der Abgeordneten ist gegen einen EU-Austritt ohne Abkommen. Geht es sich aus, ein Gesetz dagegen auf den Weg zu bringen?
Schaffen es die Parlamentarier, sich über Parteigrenzen hinweg zusammenzuraufen, dann können sie durchaus etwas erreichen und den No-Deal-Brexit verhindern.
Das Gesetz würde Johnson zwingen, einen EU-Austritt ohne Abkommen vom Tisch zu nehmen?
Ich würde nicht sagen zwingen. Aber er wäre an das Gesetz gebunden. Ignoriert er es, handelt er illegal, also ohne Rechtsgrundlage. Johnson versucht, jegliche Form der Rechtsstaatlichkeit und des demokratischen Selbstverständnisses außer Kraft zu setzen. Es muss den Parlamentariern bewusst sein, dass sie in der Verantwortung stehen. Wenn das Parlament hingegen nicht willig ist, kann Premier Johnson machen, was er will.
Diese Verantwortung besteht darin, Johnson zu stoppen?
Ja. Das Parlament muss sagen: Wir lassen uns vom Premier nicht aushebeln. Johnson agiert wie der Marionettenkönig. Der Premier ist die Marionette des Parlaments - so sollte es sein. Er kann nur tun, was es mehrheitlich zulässt. Dieses Verhältnis will Johnson auf den Kopf stellen: Er macht die Abgeordneten zu seinen Marionetten. Das entspricht nicht dem verfassungsrechtlichen und demokratischen Selbstverständnis im Vereinigten Königreich.
Die Queen hat Johnsons Vorhaben zugestimmt. Im Normalfall wäre das eine reine Formalie gewesen, doch unter diesen Umständen war die Situation sehr unangenehm für sie. Hätte sie sich gegen den Willen der Regierung stellen können?Wir waren seit 184 Jahren nicht mehr in dieser Situation, daher ist das schwer abzuschätzen. Es wäre theoretisch möglich, dass die Königin sagt: Nein, nicht unter diesen Bedingungen. Sie hätte allerdings nie in diese Situation gebracht werden dürfen, das widerspricht jeglicher Verfassungsnorm. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat sie angeschrieben und gebeten, sich da einzumischen - das ist ohne Präzedenz. Meine Kollegen und ich kratzen uns gerade am Kopf und fragen uns, was da geschieht. Wir wissen, wie es laut Lehrbuch laufen sollte, aber wir sehen seit Wochen, Monaten, Jahren, dass die Politik sich einer anderen Logik fügt als das Recht. Es ist jetzt ein wichtiger Moment in der britischen Verfassungsgeschichte. Der Premier agiert außerparlamentarisch.
Befindet sich das Land in einer Verfassungskrise?
Noch nicht. Man muss erst sehen, was das Parlament macht. Kommende Woche wissen wir mehr. Das Parlament ist aber auch eingeschüchtert. Die Abgeordneten werden als Saboteure und Verräter dargestellt.
Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung nach Johnsons Offensive?
Das Volk ist gespalten. Viele denken: Der Premier wird schon wissen, was er tut. Anderen geht das Spiel mit der parlamentarischen Demokratie zu weit. Insgesamt ist Empörung der Tenor.
Johnson bezeichnet die Vorwürfe, er wolle den Abgeordneten Zeit rauben, als "völlig unwahr". Er behauptet, die Sitzungspause diene der Vorbereitung des Regierungsprogramms. Wie glaubwürdig ist er als Premier?
Die Frage kann man nicht stellen, ohne rot zu werden. Johnson sagt einmal das und am nächsten Tag das andere. Wenn das Parlament das mit sich machen lässt, fliegt das Land am 31. Oktober aus der EU und alle können sagen, die Abgeordneten haben es nicht verhindert. Wird das Parlament hingegen nicht ausgesetzt, dann kann Johnson vor der nächsten Wahl sagen: Ich bin der Fürsprecher des Volkes und das Parlament hat euch verraten - wen wollt ihr nun? Egal, was geschieht, Johnson hat gewonnen. Strategisch ist das gar nicht unklug. Als Verfassungsrechtler muss ich sagen, dass eine solche Politik höchst problematisch ist. Johnson spielt mit der Verfassung. Das geht in keinem anderen Land in Europa. In Großbritannien ist es möglich, weil wir keine geschriebene Verfassung haben.
Corbyn hat für kommende Woche einen Misstrauensantrag angekündigt, seine Chancen sind nun wohl gestiegen. Doch Johnson hätte danach zwei Wochen Zeit, um eine neue Regierung zu bilden. Falls er darin scheitert, darf er den Termin für Neuwahlen festlegen - und würde wohl ein Datum nach dem 31. Oktober wählen. Kann ein No-Deal-Brexit also überhaupt noch verhindert werden?
Verliert Johnson den Misstrauensantrag, würde er wahrscheinlich zurücktreten und es würde Neuwahlen geben. Gelingt der Misstrauensantrag, dann liegt das an einer parlamentarischen Mehrheit - man würde also wohl zur EU gehen und noch einmal um eine Verschiebung des Brexit bitten. Tritt Johnson nicht zurück, ist das Autokratie. Es hängt also alles vom Parlament ab und davon, ob es mehrheitlich agiert.
Es läuft also auf einen Kampf zwischen Parlament und Regierung hinaus, der sich kommende Woche entscheidet. Die Abgeordneten können für einen Misstrauensantrag gegen Johnson stimmen und für ein Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit.
Genau. Das Gesetz gegen den No-Deal entspricht allerdings einer Verschiebung des Brexit. Denn es ist utopisch, dass die Abgeordneten das Austrittsabkommen mit der EU doch noch annehmen. Etwas anderes liegt nicht vor, man kann sich also nur darauf einigen, dass ein No-Deal verhindert werden soll. Das würde den Premier zwingen, noch einmal in Brüssel um eine Verschiebung anzusuchen.