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Johnson und die britischen Hammel

Von Michael Schmölzer

Politik

"Der Herdentrieb ist mächtig": Premier wurde von Tories aus Amt gezwungen. Fehler will er keine gemacht haben.


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Sichtlich frustriert trat Boris Johnson an das Rednerpult in Downing Street 10, um seinen Rückzug als Parteichef und in Folge als Premier zu verkünden. Er werde "jetzt zurücktreten", so Johnson. Der Prozess zur Wahl eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin an der Spitze der Konservativen Partei solle beginnen, der Zeitplan werde in der kommenden Woche vorgestellt. Er wolle als Regierungschef weitermachen, bis ein Nachfolger gewählt sei. Die Schuld an seinem Scheitern wies Johnson seinen konservativen Tories zu: "Was wir in Westminster gesehen haben, ist, dass der Herdentrieb mächtig ist und wenn sich die Herde in Bewegung gesetzt hat, bewegt sie sich", analysierte der künftige Ex-Premier sein persönliches Überrumpelungserlebnis. Letztendlich war er von seinen Parteifreunden aus dem Amt gezwungen worden.

Großes Aufatmen

Generell war die Erleichterung groß, dass Johnson geht. Am Tag davor herrschte in London Unsicherheit, ob sich der exaltierte Politiker ein Vorbild an Donald Trump nehmen und seine Niederlage einfach nicht akzeptieren könnte. In der Tat hatte sich Johnson noch am Mittwoch, als die Lage für ihn längst aussichtslos war, an die Macht geklammert; trotzig wiederholte er im Parlament seine Absicht, im Amt zu bleiben. Das, was in dieser Situation von einem Premier erwartet werde, sei, zielstrebig zu sein und weiterzumachen, so Johnson.

Da hatte er nur noch die bestenfalls halbherzige Unterstützung einiger Regierungsmitglieder. Zentrale Minister und dutzende Staatssekretäre waren zurückgetreten und hatten den Populisten via Twitter oder in Interviews aufgerufen, das Gleiche zu tun. Doch Johnson lotete bis zur letzten Sekunde alle Möglichkeiten aus. Mittwochabend drohte er den abtrünnigen Tory-Abgeordneten mit Neuwahlen im Wissen, dass viele dann ihr Amt verlieren würden.

Das Chaos war zu diesem Zeitpunkt perfekt. Die erst vor zwei Tagen nach dem Rücktritt ihres Vorgängers neu ernannte Bildungsministerin Michelle Donelan war zurückgetreten. Der neue britische Finanzminister Nadhim Zahawi, der ebenfalls erst vor zwei Tagen von Johnson persönlich ernannt worden war, hatte den Premier zum Rücktritt aufgefordert. Dann war ein hochrangiger Tory-Trupp zum Amtssitz Johnsons in Downing Street 10 aufgebrochen, um dem halsstarrigen Premier nahezulegen, endlich den Hut zu nehmen, bevor man zum Schaden der Partei zu noch härteren Mitteln greifen müsse.

Dutzende Minister, Staatssekretäre und sonstige höchstrangige Regierungs-Funktionäre waren nicht mehr im Amt, es war ein veritables "Rücktritts-Blutbad" im Gange, wie das berüchtigte britische Revolverblatt "Sun" titelte. Eine Meuterei hatte sich binnen Stunden zur perfekten Revolte ausgewachsen.

Am Donnerstagvormittag ging endlich ein Seufzer der Erleichterung durch das Land, als britische Medien berichteten, dass Johnson nun bereit sei, den Weg freizumachen. Der ehemalige Bürgermeister von London war damit vergleichsweise kurz im Amt gewesen - ganze 28 Tage weniger als seine ebenfalls glücklose Vorgängerin Theresa May. Der Rücktritt beende eine "düstere und zerstörerische Zeit für die britische Demokratie", so der liberale "Guardian".

Als das Fass überlief

Ausgelöst wurde die letzte Regierungskrise, die zum Fall Johnsons führte, durch die Belästigungsaffäre um Johnsons Parteikollegen Chris Pincher. Es war herausgekommen, dass Johnson von Vorwürfen sexueller Belästigung gegen Pincher wusste, bevor er ihn in ein wichtiges Fraktionsamt hievte. Das hatte sein Sprecher zuvor jedoch mehrmals abgestritten. Der Vorfall war der letzte in einer ganzen Reihe von Affären, der schließlich das Fass zum Überlaufen brachte.

Es mehren sich warnende Stimmen, die ein rasches endgültiges politisches Ende für den Premier fordern: Johnson ist als Lügner, als Spielernatur und halbseiden bekannt; der Gedanke, dass er noch Wochen oder Monate als Interims-Premier fungiert, ist vielen unheimlich. Zahllose konservative Abgeordnete machten sich für eine unmittelbare Ablöse Johnsons an der Spitze der Regierung stark. Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng mahnte bei der Suche nach einem Nachfolger ebenfalls zur Eile.

Einem raschen endgültigen Wechsel an der Regierungsspitze steht jedenfalls die Tradition der altehrwürdigen Tories im Weg. Ein neuer Parteichef wird in einem Wahlverfahren bestimmt, das je nach Bewerberzahl Wochen bis Monate dauern kann.

In Westminster machten sich Abgeordnete unterdessen Sorgen, dass das Land nun ohne Führung komplett vom Kurs abkommt. Immerhin war unklar, wer vorerst die Minister, Staatssekretäre und sonstigen Funktionsträger ersetzen soll, die wenige Stunden zuvor zurückgetreten waren. Seitens der Regierung war man bemüht, die Mandatare zu beschwichtigen: Man habe alles im Griff, Funktionen, die unbesetzt seien, würden kurzfristig von anderen übernommen, hieß es. Am Donnerstag wurden die entstandenen Lücken nach und nach geschlossen.

Keir Starmer, Chef der Labour-Opposition, applaudierte wie erwartet dem Rücktritt Johnsons. Er kündigte in der BBC ein Misstrauensvotum an, das zu baldigen Neuwahlen führen soll. Nach zwölf Jahren der Tory-Regierung brauche das Land einen Neuanfang, so Starmer, der sich zuversichtlich zeigte, dass Labour die nächsten Wahlen gewinnen würde.

Das Amt des Premierministers und des Parteichefs wird in Großbritannien in Personalunion bekleidet. Kandidaten, die im nun beginnenden Rennen um den Tory-Parteivorsitz ihren Hut in den Ring werfen - und es könnten viele sein -, müssen jeweils von zwei konservativen Abgeordneten nominiert werden. Die Abgeordneten halten dann mehrere Abstimmungsrunden ab, um den Kreis der Kandidaten zu verkleinern. Nach jeder der geheimen Abstimmungen scheidet derjenige mit den wenigsten Stimmen aus. Dieser Vorgang wird so lange wiederholt, bis nur noch zwei Kandidaten übrig sind. Traditionell finden die Abstimmungen dienstags und donnerstags statt. Allerdings steht am 21. Juli der Beginn der sechswöchigen Sommerpause des Parlaments auf dem Programm. Der Prozess muss daher womöglich beschleunigt werden.

Die verbliebenen Kandidaten werden dann per Briefwahl von den Parteimitgliedern gewählt und der Gewinner zum Vorsitzenden ernannt. Der Chef der Partei, die im Unterhaus die Mehrheit hat, ist de facto Premierminister. Er oder sie kann grundsätzlich eine Neuwahl ausrufen, muss dies aber nicht tun.

Theresa May wurde drei Wochen nach dem Rücktritt von David Cameron im Jahr 2016 Tory-Chefin. Johnson wiederum traf 2019 in der Stichwahl der Konservativen auf den ehemaligen Gesundheitsminister Jeremy Hunt. Zwei Monate nach Mays Rücktrittsankündigung übernahm er deren Posten.

Wer gewinnt das Rennen?

Nach den Johnson-Jahren sind Anforderungen an einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin hoch: "Die Qualitäten, die man sich von einem Nachfolger erhofft, sind Integrität und Respekt für Regeln und das Gesetz, eine pragmatischere und seriösere Herangehensweise an die EU - einschließlich der Abkehr von der Missachtung internationaler Verträge", schreibt die "Financial Times".

Im Kreis möglicher künftiger Premiers finden sich der zurückgetretene Finanzminister Rishi Sunak, der in den Online-Netzwerken erfolgreich ist und dessen Wirtschaftspolitik in der Corona-Krise Beifall erntete. Ebenfalls im Rennen ist Sjid Javid, Sohn eines pakistanischstämmigen Busfahrers, der allerdings ebenso wie Sunak wegen seines Vermögens und wegen seiner Steuertricks in der Kritik steht. Nicht ausgeschlossen, dass Außenministerin Liz Truss das Rennen macht. Sie wird in der konservativen Partei für ihre Offenheit und ihr Durchsetzungsvermögen geschätzt. Großer Beliebtheit erfreut sich auch Verteidigungsminister Ben Wallace, der in der Ukraine-Krise durch Entschlossenheit punkten konnte.