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Seit sechs Monaten sitzt der Student Josef S. in Untersuchungshaft. Für den Staatsanwalt ist der Deutsche ein "Rädelsführer" der gewalttätigen Demonstrationen gegen den Akademikerball.|Am Montag geht der Prozess weiter. Die Beweislage ist dünn.
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Wien. Am Dienstag um 15.30 Uhr soll alles vorbei sein. Sechs Monate hat Irma S. auf diesen Tag gewartet. Vielleicht kann sich die junge Physikerin danach wieder auf ihre Dissertation konzentrieren. Und muss nicht mehr Interviews geben, ihren Eltern gut zureden, es ihr gleichzutun, und vor allem ständig von Dresden nach Wien fahren, wo die DDR in den Gerichtssälen scheinbar ein Revival feiert. Ja, Irma S. sehnt den kommenden Dienstag herbei. Denn dann ist das Schlimmste vorbei: die Ungewissheit. Dann wird die 26-Jährige endlich erfahren, ob ihr kleiner Bruder die nächsten fünf Jahre seines Lebens hinter Gitter muss oder nicht.
Die Rede ist von Josef S. Er ist jener 23-jährige Student aus Jena, der seit dem 24. Jänner 2014, der Nacht des Wiener Akademikerballs, in der Justizanstalt Josefstadt in Untersuchungshaft sitzt. 6000 Menschen demonstrierten in dieser Nacht gegen den Ball der Rechten Europas, organisiert von der FPÖ, in der Wiener Innenstadt. Und einige randalierten. Zerstörten Schaufenster. Griffen die Polizei an. Die Bilanz: 17 Verletzte, 691 Anzeigen und 14 Festnahmen. Alle wurden später wieder freigelassen - bis auf Josef S. Die Anklage: Landfriedensbruch, schwere Körperverletzung und schwere Sachbeschädigung. Ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Die Beweislage ist dünn. Bisher belastet ihn ein Zeuge - ein Zivilbeamter -, und dieser verstrickt sich in Widersprüche.
So behauptet er, Josef S. habe in jener Nacht auf dem Stephansplatz Steine und andere Gegenstände auf Polizisten geworfen sowie Scheiben und die Eingangstür der Polizeiinspektion am Hof eingeschlagen. Danach habe er ein abgestelltes Polizeiauto mit der Stange eines Verkehrszeichens demoliert, bevor er abschließend eine Rauchbombe in das Innere des Wagens geworfen habe. Zwischendurch soll er als Anführer Anweisungen an den vermummten Mob gegeben haben.
Beweise konnten für diese Vorwürfe bisher keine erbracht werden. Im Gegenteil: Eine Stimmenanalyse hat ergeben, dass nicht Josef S. die Anweisungen "Tempo! Tempo! Weiter! Weiter!" gebrüllt hat, sondern ein anderer Mann. Und auch auf dem vor Gericht gezeigten Videomaterial ist nicht zu sehen, dass Josef S. vermummt ist, wie vom Zeugen behauptet wurde, oder Gegenstände auf Polizisten geworfen hat - lediglich, dass er an einem Metallmistkübel hantiert.
Dennoch: Nach dem ersten Prozesstag am 6. Juni war für den Richter klar: Die Beweislage habe sich erhärtet. "Es stellt sich schon die Frage, was ein ach so friedlicher Demonstrant da macht", sagte der Richter am ersten Verhandlungstag. Der Enthaftungsantrag wurde abgelehnt. Die Begründung: Es bestehe "Tatbegehungsgefahr" sowohl im Inland als auch im Ausland.
Deutsche Medien bezeichnen den Fall längst als Polizei- und Justizposse, und mehr als einmal wurde Franz Kafkas Werk "Der Prozess" zitiert - nicht nur wegen der Vornamensgleichheit der beiden Protagonisten. Die österreichische Justiz versuche hier ein Exempel zu statuieren, meinen Beobachter. Und in Josef S. haben sie ihren Täter gefunden. Er gibt dem berüchtigten "Schwarzen Block", der 2000 Polizisten in jener Nacht überforderte, sein blasses Gesicht.
In Wien ein "Rädelsführer",in Jena ein Preisträger
"Rädelsführer", "Demonstrationssöldner", "Manifestant" - so bezeichnet der Staatsanwalt den Studenten in seiner Anklageschrift. In Jena kennen die Einwohner diesen Menschen nicht, von dem in Wien gesprochen wird. Sie kennen einen anderen Josef S.; einen, der Werkstoffwissenschaften studiert, sich bei den sozialdemokratischen Roten Falken engagiert, seine Arbeiten immer pünktlich abgibt und von seinen Hochschulprofessoren als höflicher, friedlicher und aufrechter Mensch bezeichnet wird. Vor ein paar Wochen hat ihm der Oberbürgermeister von Jena sogar einen Preis für Zivilcourage verliehen. Es gehöre in seiner Gegend zum guten Ton, sich an Demonstrationen gegen diejenigen zu beteiligen, die Andersdenkende diskriminieren, hat er zu Beginn des Gerichtsverfahrens in Wien auf die Frage geantwortet, was einen Studenten aus Jena zu einer Demonstration gegen Burschenschafter nach Wien treibe.
Eigentlich wollte er nur Freunde in Wien besuchen, erzählt seine Schwester Irma S. Das mit der Demonstration habe sich ergeben. Die Mitveranstalter der Demonstration - das NoWKR-Bündnis, das für sein umstrittenes Plakat "Unseren Hass könnt ihr haben" viel Kritik geerntet hat - habe auch in Deutschland mobilisiert und Busse nach Wien organisiert. In einem dieser Busse aus Leipzig ist Josef S. gesessen. Und ist dann mit jenen mitgelaufen, die mit ihm in diesem Bus waren, erzählt seine Schwester. Das soll erklären, warum er in der Nacht dort stand, wo er stand, und umgeben war von vermummten Gestalten.
Verunsichertelinke Szene
Warum hat er sich nicht entfernt? Warum ist er dort geblieben? Irma S. weiß es nicht. "Er dachte nicht, dass es so eskaliert. Wenn man zu einer Demo nach Österreich fährt, stellt man sich gar nicht vor, dass etwas passiert", meint sie. Bereuen tut ihr Bruder seine Teilnahme an der Demonstration nicht. Das weiß sie: "Er ist der, der unter die Räder gekommen ist. Es hätte auch jeden anderen treffen können. Es nützt ja nichts, etwas zu bereuen, das man nicht direkt bestimmen kann", meint Irma S. In Interviews mit anderen Medien hat ihr Bruder bereits gesagt, dass er nächstes Jahr wieder gegen den Akademikerball demonstrieren werde - falls man ihn freilasse. Um ein Signal zu setzen. Um zu zeigen, dass er sich nicht einschüchtern lasse.
In der antifaschistischen Szene ist Josef S. längst ein Star. Mehr noch. Er wird schon fast zum Märtyrer erhoben. Aus der ganzen Welt schicken Aktivisten ihre Solidaritätsbekundungen. Von Italien über Kuba bis nach Vietnam. In Wien hat sich die Szene anfangs noch zurückgehalten, erinnert sich Irma S. Erst nach Monaten hat man sich zu Josef S. bekannt. "Ich bin ja erschreckt, wie ängstlich und verunsichert die linke Szene in Österreich ist. Aber wenn man sieht, mit welchen Mitteln hier vorgegangen wird, kann man das auch verstehen", sagt seine Schwester.
Am Sonntagabend wird sie mit ihren Eltern wieder nach Wien reisen. Am Montag geht der Prozess weiter. Weitere Zeugen sollen vernommen werden, darunter zahlreiche Polizisten sowie Mitarbeiter der MA 48, die über allfällige herumliegende Steine Auskunft geben sollen, auf die sie bei ihren Aufräumarbeiten gestoßen sind. Außerdem soll ein Gutachten klären, ob die Handschuhe, die Josef S. in der Nacht getragen hat, Rückschlüsse auf jene Rauchbombe geben, die er ins Polizeiauto geworfen haben soll. Ob dafür zwei Verhandlungstage ausreichen und dann das Urteil zweifelsfrei feststeht, bezweifelt selbst der Richter.
Es ist nicht der letzte Fall in diesem Zusammenhang. Im August wird eine weitere Person wegen Beteiligung an den Demonstrationen gegen den Akademikerball vor Gericht gestellt. Laut einem Bericht von standard.at handelt es sich dabei um einen Mann, der bei einer Kundgebung gegen das rechte "Fest der Freiheit" am 4. Juni - und nicht in der Nacht des Akademikerballs - festgenommen wurde. Auch er soll sich als Rädelsführer profiliert haben. Sein Verhandlungstermin ist der 18. August.
Prozess.report zum Fall #freejosef (Live-Ticker freier Journalistinnen)
Lange Zeit galt das Delikt "Landfriedensbruch" als totes Recht. Im Strafgesetzbuch beschreibt der Paragraf 274 den Tatbestand als wissentliches Teilnehmen an einer "Zusammenrottung", die auf Mord, Totschlag, Körperverletzung oder schwere Sachbeschädigung abzielt. Das Strafmaß ist mit zwei beziehungsweise drei Jahren bemessen, je nachdem, ob "führend" an der "Zusammenrottung" teilgenommen wurde.
Seit 2007 wird der Paragraf von der Justiz immer wieder angewendet, vor allem im Zusammenhang mit Fußball-Hooligans. Das Wiener Oberlandesgericht warnte zuletzt im April davor, die Bestimmung zu extensiv auszulegen.
Die bloße Teilnahme an einer Demonstration oder Ansammlung reiche nicht aus, um den betreffenden Personen im Fall einer Eskalation ein tatbestandmäßiges Verhalten zu unterstellen.
Die Grünen brachten noch vor der Sommerpause im Justizausschuss des Nationalrats einen Antrag auf ersatzlose Streichung des Paragrafen ein, der keine Mehrheit fand. Allerdings vermeldete die Parlamentskorrespondenz nach der Ausschusssitzung, die Fraktionen seien sich grundsätzlich einig, dass man den Tatbestand "als veraltet" aufheben könnte. Denn für die strafbaren Handlungen selber gebe es ohnehin eigene Strafparagrafen.
Justizminister Wolfgang Brandstätter bezeichnete eine Überarbeitung grundsätzlich als sinnvoll. Allerdings müsse man überdenken, ob es ausreichend rechtspolitische Handhabe zum Auffangen von Gewalt durch größere Gruppierungen gebe.