Acht Monate vor den französischen Präsidentschaftswahlen sorgen "Enthüllungen" über Premierminister Jospin für Aufsehen - nicht unbedingt zu dessen Nachteil.
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Das Coverfoto zeigt einen in sich horchenden Mann mit schmalen Lippen und Schweiß auf der Stirn; einen Mann, der nachdenkt; einen Mann, der Angst hat. "Jospin - Familiengeheimnisse" heißt Serge Raffys Biografie über den französischen Premierminister, die zweifellos für einige heftige Diskussionen im politischen Herbst von Paris gesorgt hätte, wenn nicht jene Ereignisse die Welt erschüttert hätten, die seitdem alles überschatten.
Serge Raffy legt in seinem Buch die Feder auf einige wunde Punkte in Jospins Leben. Demnach war Jospins Vater Robert ein radikaler Pazifist - im Frankreich des Jahres 2001 ist das immer noch ein Schimpfwort, galten und gelten Pazifisten doch als Vorstufe der "Collaborateurs", auf jeden Fall aber als Leute, die sich mit dem Vichy-Regime und ergo mit Hitler abgefunden, wenn nicht arrangiert hatten.
Auch Lionel Jospins Vergangenheit als Mitglied einer trotzkistischen Gruppe wird von Raffy in allen Details beleuchtet. Das Thema war nicht zuletzt deshalb so interessant geworden, weil Jospin - eine bei Staatsmännern häufig vorkommende Vergesslichkeit - sich später nicht mehr an seine Vergangenheit erinnern wollte. Selbst auf Nachfrage hatte Jospin die Öffentlichkeit über sein Mitwirken bei der trotzkistischen Organisation OCI ("Organisation communiste internationaliste") getäuscht. Erst bei einer Rede im Juni dieses Jahres bekannte er: "Es stimmt, dass ich in den 60er Jahren Interesse für trotzkistische Ideen zeigte und Verbindungen zu einer Organisation dieser Bewegung hatte. Es handelt sich hier um einen persönlichen, intellektuellen und politischen Lebensweg, für den ich, wenn das Wort hier angebracht ist, nicht zu erröten brauche."
Es war aber weniger seine Mitgliedschaft bei einer radikalen Organiation als sein langes Schweigen, das man Jospin vorwarf, und die Tatsache, dass er die trotzkistische Phase seinem Bruder in die Schuhe geschoben hatte - beides hätte man vom "gestrengen Pastor", wie Raffy Jospin in Anspielung auf sein protestantisches Religionsbekenntnis nennt, nicht erwartet. Das späte Bekenntnis zur "Jugendsünde" Trotzkismus hat Jospin weniger Kritik als Spott eingebracht - vor allem von Seiten seiner politischen Gegner wie Jacques Chirac. "Im privaten Kreis", so Serge Raffy, "bezeichnet der Präsident Lionel Jospin von nun an als Pinocchio."
Bei anderen wieder, etwa dem auch in Österreich bekannten Intellektuellen Bernhard-Henri Lévy, hat Jospin dadurch an Menschlichkeit gewonnen. Aus dem karrierebewussten und trockenen Absolventen der Elitehochschule ENA (École nationale d´administration), aus der übrigens - um nur einige zu nennen - auch die Herren Chirac, Fabius, Rocard, Balladur und Juppé hervorgegangen waren, hatte sich plötzlich eine "romanhafte Persönlichkeit" (Lévy) herauskristallisiert.
Als "Maulwurf" in die Partei
In einer zweiten, ebenfalls als "Buch-Ereignis des politischen Herbsts" gepriesenen Jospin-Biografie, wird auf die trotzkistische Phase im Leben des Premierministers noch näher eingegangen. Claude Askolovitch, Journalist beim Wochenmagazin "Le nouvel Observateur", geht in "Lionel", wie der privat gehaltene Titel es bereits andeutet, auch auf die Persönlichkeitsstruktur Jospins ein. Demnach sei sein trotzkistisches Engagement von intellektueller Neugierde und einem globalen Gerechtigkeitssinn bestimmt gewesen, wobei Askolovitch behauptet, Jospin wäre "wie ein Geheimagent der guten Sache" von den Trotzkisten in die Sozialistische Partei Frankreichs eingeschleust worden. Der "Maulwurf" Jospin habe die Weltrevolution aber bald für eine Karriere als "ungeliebter Ziehsohn" François Mitterrands aufgegeben, der unter seinen politischen Nachkommen stets den eleganten und charmanten Laurent Fabius bevorzugt hatte.
Jospin hat in mehreren öffentlichen Stellungnahmen die "Maulwurf"-Anschuldigungen zurückgewiesen und beteuert, dass er seit seinem Beitritt zur Sozialistischen Partei auch wie ein Verantwortungsträger der Sozialistischen Partei gehandelt habe - und etwas anderes können sogar seine heftigsten Gegner schwerlich von ihm behaupten.
Askolovitch widmet sich in seinem Buch auch den Frauen Lionel Jospins. Da wäre an erster Stelle seine Mutter Mireille Jospin zu nennen, eine Hebamme im Ruhestand, die - einundneunzigjährig - nach wie vor mit ihrem alten Renault 5 durch den hektischen Verkehr von Paris kutschiert und nur höchst ungern an offiziellen Feiern der Regierung teilnimmt. Zu Silvester 2000 hatte sie sich von ihrem Sohn überreden lassen, an den Feiern in Matignon, dem Sitz des Premierministers, teilzunehmen - und hatte ihren Schlafsack mitgebracht, um keine Umstände zu machen. Noch vor fünf Jahren - sie war damals 86 Jahre alt - war sie mit einer Gruppe von Frauen, die sich gegen die Klitorisbeschneidungen bei Mädchen einsetzen, für einen Monat nach Mali gereist, um dort junge Hebammen vor Ort auszubilden. In einem Testament hatte sie verfügt, dass ihr Körper im Falle ihres Ablebens nicht nach Frankreich überstellt werden solle, sondern "entweder der medizinischen Fakultät in Bamako oder den Kaimanen im Niger (Zyklus der Natur) übergeben" werden solle.
Auch Jospins erste Ehefrau, Elisabeth, ist eine beeindruckende Erscheinung. Sie war ebenfalls Studentin an der ENA, bekannt für ihr Engagement und ihre Intelligenz. Sie arbeitete später als Psycho-Soziologin und begleitete Jospin durch die schwierigen Jahre des politischen Anfangs. Sie führte dabei stets ihr eigenes Leben und führte dieses auch weiter, als Jospin und sie sich trennten. Als die Scheidung bereits im Gange war, verhandelte Jospin - damals, Ende der 80er Jahre, als Unterrichtsminister tätig - mit einer äußerst resoluten Lehrerin, in die er sich verliebte: Sylviane Agacinski, Ex-Journalistin, linke Intellektuelle, Professorin für Philosophie. 1990 beschlossen die beiden, zusammen zu leben. Mit von der Partie: Daniel, Sylvianes damals zehnjähriger Sohn aus ihrer Beziehung mit dem Philosophie-Star Jacques Derrida.
Jospin hat, wenn man seinen Biografen glauben darf, mehr Hochs und Tiefs in seinem Leben mitgemacht als so mancher andere Politiker. Zu den Tiefs gehörte auch die Diagnose der Basedowschen Krankheit, einer Schilddrüsenüberfunktion, die Ende der 80er Jahre diagnostiziert wurde, wie Serge Raffy berichtet. Von seinen politischen Gegnern, aber auch von besorgten Parteifreunden wurden Jospins berüchtigte Wutausbrüche den hormonellen Schwankungen, die die Krankheit hervorruft, zugeschrieben.
Lionel Jospin, dem "Mann ohne Eigenschaften", wie er auch von Parteifreunden bezeichnet wird, stehen schwierige Monate bevor. Bis zur Wahl im Mai 2002, bei der er für das Amt des Staatspräsidenten kandidiert, muss er innenpolitisch irgendwie gegen den auf der Weltbühne viel präsenteren Jacques Chirac punkten.
Das wird um so schwieriger, als auch der charismatische Ex-Innenminister Jean-Pierre Chevènement, genannt "Le Che", bei den Präsidialen gegen seinen ehemaligen Premier antritt. Jospin und Chevènement hatten sich an der Frage einer stärkeren Autonomie für die Mittelmeerinsel Korsika entzweit. Chevènement wird seine Stimmen zweifellos eher aus dem Lager Jospins bekommen.
Thema Sicherheit
Nach Meinung der meisten Kommentatoren wird sich der kommende Präsidentschaftswahlkampf um das Thema "Sicherheit" drehen. Die steigende Kriminalitätsrate und vor allem die Jugendkriminalität (40 % der Verbrechen im öffentlichen Raum werden von Minderjährigen verübt!) sorgen für Unmut in der Bevölkerung. Brutale Überfälle - auch am helllichten Tag - verbittern zunehmend die Einwohner von "Problemzonen" wie Lyon, Montpellier, Marseille, Nizza oder den Pariser Außenbezirken.
Dennoch: Jospin ist es während seiner Amtszeit gelungen, die Arbeitslosigkeit zu senken und der Wirtschaft zu solchen Höhenflügen zu verhelfen, dass zeitweilig nicht Deutschland, sondern Frankreich als "Konjunkturlokomotive" Europas bezeichnet wurde. Seine Integrität hat dazu geführt, dass die Politiker insgesamt wieder ein besseres Image in der Öffentlichkeit genießen; doch gerade diese Integrität, analysiert Catherine Pégard von der Wochenzeitung "Le Point", mindert in der Öffentlichkeit seine Statur. Pégard: "Jospin hat eine schwierige Aufgabe: Er muss sich verändern und gleichzeitig derselbe bleiben." Denn schlimmer als ein umstrittenes Image zu haben ist es für einen Politiker, gar kein Image zu haben. Noch immer kursiert in den politischen Zirkeln Frankreichs jene Anekdote über "den Mann mit der Maske", die Claude Askolovitch wiedergibt: Demnach sei beim Karneval von Toulouse ein Mann gefragt worden, warum er eine Maske von Lionel Jospin trage, worauf dieser antwortet: "Weil ich Lionel Jospin bin ..."
Authentische Auftritte
Serge Raffy wiederum meint, dass Jospin in seinem Auftreten eher authentisch sei. Jospin habe es stets abgelehnt, sich von seinen Öffentlichkeitsberatern in eine Rolle drängen zu lassen. Er weigerte sich konsequent, den lockeren Bill Clinton oder den volksverbundenen Tony Blair nachzuspielen und hatte jede Weiterbildung bei den einschlägigen Kommunikations-Gurus stets vorzeitig abgebrochen. Raffy: "Er ist vom Syndrom des Anti-Narzismus befallen. Der sozialistische Star mag es nicht, sich im Spiegel zu betrachten. Paradox: Er ist selbstsicher, manchmal bis zur Arroganz, aber er erträgt Spiegel nicht. Für seine Kommunikationsberater ist das die Hölle. Er hört niemals auf ihre Ratschläge und ist bei der Kontrolle seines Äußeren nachlässig." Bei einer Fernsehkonfrontation mit Jacques Chirac soll Jospin sogar aus Zerstreuung die Hose des einen Anzugs und die Weste eines anderen getragen haben ...
Bei seiner neuerlichen politischen Identitätssuche dürften Jospin die beiden Bücher mit den öffentlich durchaus verkraftbaren "Enthüllungen" nicht sehr im Weg stehen.
Dazu Franz-Olivier Giesbert, Schriftsteller und Chefredakteur des in der politischen Mitte angesiedelten Wochenmagazins "Le Point": "Sowohl Claude Askolovitch als auch Serge Raffy gehören journalistisch eher zum linken Lager. Dass sie Jospin einen Gefallen getan haben, glaube ich nicht. Aber geschadet haben sie ihm sicher nicht. Denn alles, was Jospin aus der Mittelmäßigkeit heraushebt, die ihm nachgesagt wird, wird ihm eher nützen als schaden."
Tatsächlich hat sich das Image Jospins in den letzten Monaten ziemlich gewandelt. Der Mann, der auch von wohlmeinenden Weggefährten gerne als "Streber" und "graue Maus" bezeichnet worden war, gilt nun plötzlich als "fauve", als wildes politisches Tier. Das eine oder andere Mysterium in der Vergangenheit kann nur dazu beitragen, ihn in den Rang von großen Staatsmännern wie Mitterrand oder Chirac zu heben. Schon mehren sich die Stimmen im gaullistischen Lager, den wenig charismatischen Premierminister im Präsidentschaftswahlkampf nicht zu unterschätzen. Man dürfe die Zähigkeit Jospins nicht vergessen, der es als ewiger Mann der zweiten Wahl bis nach oben geschafft habe.
Kann er es bis ganz hinauf schaffen? Könnte auch Lionel Jospin einmal ein "raumfüllender" Präsident wie Mitterrand werden? Dazu Franz-Olivier Giesbert, Autor zweier monumentaler politischer Biografien über François Mitterrand und Jacques Chirac: "Auch wenn er gewählt werden sollte, was ich für sehr unwahrscheinlich halte, glaube ich nicht daran. Er ist professionel und gewissenhaft, aber es fehlt ihm die Größe."
Claude Askolovitch, "Lionel", Grasset, 411 Seiten.
Serge Raffy, "Jospin - secrets de familles", Fayard, 435 Seiten.