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Gegen 42 Journalisten, die der Gülen-Bewegung nahestehen, wurden Haftbefehle erlassen.
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Istanbul. "Noch sind wir nicht direkt im Fadenkreuz, aber es kann jederzeit geschehen", sagt die prominente türkische Journalistin Ceyda Karan, eine ehemalige TV-Moderatorin, die jetzt für die links-kemalistische Zeitung "Cumhuriyet" arbeitet. Es ist das letzte noch existierende einflussreiche Oppositionsblatt der Türkei. Die 45-jährige Journalistin sitzt am Dienstag im Konferenzraum im fünften Stock des Verlagsgebäudes nahe dem Istanbuler Zentrum und liest Twittermeldungen.
Gerade verbreitet sich die Nachricht, dass die 72-jährige Nazli Ilicak verhaftet wurde, die Grande Dame des konservativen Journalismus in der Türkei. Sie steht auf einer Liste von 42 türkischen Journalisten, gegen die am Montag Haftbefehle erlassen wurden, weil sie die Putschisten vom 15. Juli unterstützt haben sollen. Für den gescheiterten Putsch gegen den Staatspräsidenten Erdogan macht die Regierung in Ankara die Bewegung des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen verantwortlich, dessen Netzwerk in der Türkei als Terrororganisation geführt wird. Gülen war früher ein Verbündeter Erdogans. Den Journalisten wird vorgeworfen, Mitglied seiner Organisation zu sein.
"Bei dem verbrecherischen Putschversuch sind mehr als 240 Menschen gestorben, man muss die Täter juristisch belangen", sagt Ceyda Karan. "Aber Journalismus ist kein Verbrechen. Ich kenne Nazli Ilicak seit vielen Jahren und teile ihre Auffassungen überhaupt nicht. Doch sie hat einfach ihr Recht der freien Meinungsäußerung ausgeübt, sie war immer ehrlich und offen. Wie es aussieht, wurde sie nur aus dem Grund verhaftet, dass sie für Gülen-Medien arbeitete und die Korruption im Land kritisierte."
Die Journalistin Nazli Ilicak arbeitete seit Ende der 60er Jahre für verschiedene islamisch-konservative Tageszeitungen und als Kommentatorin fürs Fernsehen. 1999 wurde sie als Abgeordnete der islamistischen Tugendpartei, aus der später die islamisch-konservative AKP Erdogans hervorging, ins Parlament gewählt. Damals schrieb sie türkische Geschichte, als sie die Abgeordnete Merve Kavakci, die als erste Abgeordnete mit Kopftuch in die Nationalversammlung kam, in den Plenarsaal begleitete.
Kavakci wurde der Eintritt verboten, weswegen sie heute als Ikone der AKP verehrt wird. Ilicak dagegen ist seit 2013 in Ungnade gefallen, weil sie die Vetternwirtschaft in der AKP und der Regierung in ihren Kommentaren geißelte, vor allem nach Bekanntwerden eines gewaltigen Korruptionsskandals, der den innersten Zirkel Erdogans erschütterte. Damals wurde sie von der regierungsnahen Zeitung "Sabah", die einem Schwiegersohn Erdogans gehört, entlassen. Sie arbeitete dann für einen TV-Sender der größten türkischen Mediengruppe Dogan und für die Zeitung Bugün, die der Gülen-Bewegung nahestand. Im vergangenen Oktober wurde Bugün wegen ihrer Gülen-Verbindungen zwangsenteignet und eingestellt.
11 der 42 bereits im Ausland
Bis Dienstag wurden von den 42 zur Fahndung Ausgeschriebenen 20 Journalisten in Gewahrsam genommen, 11 von ihnen befinden sich im Ausland. "Das größte Gefängnis für Journalisten weltweit", nannte "Cumhuriyet"-Chefredakteur Can Dündar die Türkei bereits vor dem Putsch. Dündar hält sich in Europa auf und soll auch auf einer Verhaftungsliste stehen. Auf der Liste des Innenministeriums finden sich andere, die auch nichts mit den Gülenisten zu tun haben. Darunter der "Hürriyet"-Reporter Arda Akin und der ehemalige Hürriyet-Online-Chef Bülent Mumay, ein preisgekrönter prominenter linksliberaler Journalist, der erklärte, die einzige Organisation, der er angehöre, sei der türkische Journalistenverband. "Es ist zu befürchten, dass im Zuge der Säuberungen auch gegen die Säkularen vorgegangen wird", sagt Ceyda Karan.
Die internationale Journalistenorganisation CPJ erklärte, die türkischen Behörden sollten den Putschversuch nicht als Vorwand nehmen, um gegen kritische Kollegen vorzugehen: "Journalisten sollten nicht den Preis für den kriminellen Versuch von Militäroffizieren zahlen, die Regierung zu stürzen."
Laut Ceyda Karan ist "Cumhuriyet" bisher keinen Repressionen ausgesetzt. "Wir machen unsere Arbeit wie gewohnt. Zum Beispiel haben wir über die mutmaßliche Folter an verhafteten Militärs berichtet und kritisieren den Ausnahmezustand im Land, den wir für falsch halten." Doch eine Garantie, dass das Blatt unangetastet bleibe, könne niemand abgeben, sagt die Redakteurin, die kürzlich wegen Beleidigung des Staatspräsidenten zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde und auf das Berufungsverfahren wartet. Vielleicht profitiere "Cumhuriyet" derzeit noch von der neuen Nähe zwischen Erdogan und dem sozialdemokratisch-kemalistischen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. "Derzeit rechnen sie noch mit den Feinden in den eigenen Reihen ab. Wer dann drankommt, weiß man nicht."
Die meisten Journalisten auf der Verhaftungsliste haben wie Nazli Ilicak zumindest zeitweise für Gülen-nahe Medien wie die Zeitungen "Zaman", "Today’s Zaman" und "Bugün" oder das Wochenmagazin "Nokta" gearbeitet.
Anwälte lehnen Mandat ab
Einige Journalisten Gülen-naher Medien haben sich direkt nach dem gescheiterten Putsch ins Ausland abgesetzt, als klar wurde, dass der Staat die gesamte Bewegung ins Visier nehmen würde. "Meine Familie flehte mich an, zu gehen, um nicht verhaftet zu werden", sagt ein Redakteur am Telefon, der seinen Namen aus Angst um seine Angehörigen nicht genannt haben will. "Es war klar, dass jeder, der auch nur minimal mit der Bewegung zu tun hatte, bestraft werden würde." Jetzt habe Erdogan den Polizeigewahrsam per Dekret bis zur Vorführung vor einen Richter auf 30 Tage ausgedehnt. "Das bedeutet Misshandlungen und Folter. Wir werden zu Terroristen, obwohl wir nur Journalismus gemacht haben. Anwälte lehnen es ab, unser Mandat zu übernehmen. Aber wenn sie mit uns fertig sind, dann kommen die nächsten dran: die Säkularen, die Linken."
Diese Gefahr sieht auch die Cumhuriyet-Redakteurin Ceyda Karan. Aber sie sagt: "Die Gülen-Journalisten haben Andersdenkende früher selbst angegriffen und sich mitschuldig gemacht an den heutigen Zuständen im Land. Trotzdem werden wir mit unseren Journalistenverbänden alles tun, um ihnen jetzt zu helfen.