Gummigeschosse und Prügel: Reporter riskieren in der Ukraine viel.
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Kiew. Gegenüber dem Bezirksgericht von Pechersk in Kiew ist eine kleine, braune Tür. Es gibt dort gerade mal einen Knopf zum Anläuten, kein Schild, keine Namen am Eingang. Hier ist der Sitz von "Zerkalo Nedeli", einem der einflussreichsten Polit-Magazine der Ukraine. Nicht, dass man sich absichtlich verstecken würde, man hätte bloß vergessen, seit dem Umzug hierher vor einem Jahr das Schild mitzunehmen, wird versichert. Dabei gäbe es momentan einige Gründe für Politjournale im Land am Dnepr, sich im Machtkampf zwischen Regierung und Opposition weniger sichtbar zu machen.
Bloß nicht zu stark auffallen, ist die Devise von Medienvertretern, die sich am Maidan oder Antimaidan zu Recherchezwecken tummeln. Man erkennt sie höchstens an Kameras oder Stativen, vielleicht noch an ihren Notizblöcken, die aber kaum jemand zückt bei minus 22 Grad - jeder Kugelschreiber gibt bei dem Frost auf, Verlass ist nur noch auf Bleistifte. "Anfangs haben alle noch die orangen Presse-Westen getragen", erzählt Serhii Rachmanin, Vize-Chefredakteur von "Zerkalo Nedeli" und mehrfach ausgezeichneter Politjournalist. "Seit den zahlreichen, gezielten Übergriffen auf Vertreter von Massenmedien nehmen jedoch fast alle Abstand davon."
Schätzungen zufolge wurden bisher - wenn man alle miteinrechnet, die verprügelt, von Gummigeschossen getroffen oder bei Protestauflösungen in den ukrainischen Regionen unter die Räder kamen - rund 130 Journalisten angegriffen.
Rachmanin weiß ein Lied davon zu singen, wie schwer es ist, bei all den Vorkommnissen der letzten Wochen "ruhig Blut zu bewahren" und unberührt von den Vorgängen die nötige journalistische Objektivität beizubehalten. "Vor unseren Augen sterben Menschen, Kollegen werden gezielt angegriffen. Dafür gibt es Videobeweise. Und die Polizei verschleiert nicht einmal, dass ihrer Ansicht nach Journalisten Feinde sind", sagt er.
"Solidarität unter Kollegen"
70 bis 80 Prozent der Politjournalisten im Land seien Frauen, erzählt Rahmanin. Viele davon sehr junge, die für lächerliches Geld - 400 Dollar im Monat, wenn sie frisch einsteigen - ihre Gesundheit oder ein Berufsverbot riskieren und unter schwierigsten Bedingungen hervorragende Arbeit leisten würden. "Der Politjournalismus in unserem Land ist durch diese Herausforderungen erwachsen geworden", sagt er. Bis auf den TV-Kanal "Inter" würden alle großen TV-Stationen des Landes ausgewogen berichten. "Sogar die Oligarchen, denen die Kanäle gehören, halten sich raus", erklärt Rachmanin - auch sie wären daran interessiert, eine unnötige Zuspitzung der Ereignisse zu vermeiden und Journalisten maximale Freiheit in der Berichterstattung zu lassen.
Und ungeachtet dessen, dass die Aktionen der politischen Führung Medienvertreter sehr wohl eingeschüchtert haben, findet Rahhmanin doch auch eine positive Seite. "Eine bisher nicht gekannte Solidarität hat sich eingestellt", sagt er. Kollegen würden einander helfen und sich gegenseitig schützen - sogar jene Journalisten, die sich früher aus Konkurrenzdenken nicht einmal ansahen.
Die Solidarität geht aber über die Politjournalisten hinaus. Sogar auflagenstarke Celebrity-Magazine haben sich politisch eingeklinkt und schalten zwischen die Hochglanzfotos von Stars Fotoreportagen vom Maidan oder Seiten ohne Worte - nur mit der ukrainischen Fahne. "Wir können nicht einfach nur zusehen", sagt Ivanna Slaboschpitskaja, Chefredakteurin von "Viva", dem ukrainischen Pendant zur "Gala". Skurriles findet man aber auch in Tageszeitungen, die ob des andauernden Konflikts Möglichkeiten suchen, diesen aus verschiedensten Perspektiven zu beleuchten. In "Segodnja" etwa wurden Maidan-Aktivisten als Helden von Fantasy-Computer-Spielen vorgestellt - vom Zauberer (der Molotowcocktails wirft) über Kleriker (Priester unterstützen die Proteste) bis hin zu Heilern (Sanitäter).
Am meisten gefragt bei Medienkonsumenten ist aber aktuell schnelle Info-Berichterstattung. Laut Rachmanin stiegen die Besucherzahlen der Online-Version von "Zerkalo Nedeli" seit Beginn der Revolution von 30.000 auf eine halbe Million täglich. Vor allem Kurzmeldungen über die neuesten Ereignisse würden nachgefragt. Den größten Boom würden aber Live-Streams verzeichnen. Nicht wenige Ukrainer würden Fernsehkanäle, die Live-Streams etwa vom Maidan oder anderen wichtigen Orten übertragen, die ganze Nacht laufen lassen. "Um vier Uhr nachts wachen sie dann auf, schauen kurz - gut, es wird gerade nichts gestürmt - und schlafen weiter", sagt Rachmanin. Wie lange die Situation so angespannt bleiben werde wie jetzt, will der Politanalyst nicht voraussagen. Aber mit jedem Tag sinke die Chance, dass die Konfrontationen friedlich enden.
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