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Jüdisches Selbstbewusstsein

Von Peter Stiegnitz

Gastkommentare

Wie die Juden in Österreich heute mit ihrem Judentum umgehen, bestimmen nicht zuletzt ihr Alter und ihre Herkunft.


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Im Schatten der (auch) nach Österreich importierten, meist emotionell geführten Debatte um Migranten und Minderheiten, Asylwerber und Arbeitslose köchelt auf kleiner Flamme auch das ewige Thema Juden. Auf der Kehrseite von (rassistischem) Antisemitismus und (religiösem) Judenhass steht das, was wir Juden seit rund 2000 Jahren das fehlende oder vorhandene "jüdische Selbstbewusstsein" in der Diaspora nennen.

Das Selbstbewusstsein heutiger Juden, vor allem in und östlich von Österreich, wird vorwiegend vom Alter und vom Herkunftsland bestimmt und von Erinnerung (an den Holocaust) und Eigenerfahrung (echter oder auch eingebildeter Antisemitismus) überdacht.

Den Holocaust haben drei Generationen überlebt:

* Die Jahrgänge 1910 bis 1920 wollten als echte Opfer des Judenmordes nach der Befreiung am liebsten alles vergessen. Dem Tode entronnen, Hab und Guts beraubt, wollten sie nichts mehr wissen - am allerwenigsten von ihrem Judentum. Das war vor allem in Osteuropa der Fall.

* Die Jahrgänge 1930 bis 1940, Kinder des Holocaust, entdeckten ihr "Judentum" zunächst im Widerspruch zu den Eltern. Schuld- und Minderwertigkeitskomplexe prägen sie bis heute.

* Die dritte Generation sind die nach 1945 Geborenen, deren Identitätssuche zwischen Zionismus und Antisemitismus schwankt.

Den zweiten Faktor im Leben der Juden in Österreich bestimmte ihre Herkunft:

* Die zahlenmäßig eher wenigen österreichischen Re-Emigranten sahen sich fälschlich als "Heimkehrer".

* Die zweite Gruppe kam aus Osteuropa und fand eine neue Heimat in Österreich.

* Die "Ostwanderer" kamen aus der ehemaligen UdSSR, teils direkt, teils als Rückwanderer aus Israel.

Mit den größten psychologischen Problemen kämpften die einst vertriebenen österreichischen Juden. Sie lernten von ihren Vorfahren nicht viel; auch sie - wie ihre Groß- und Urgroßeltern - unterliegen einer Selbsttäuschung. Während (auch) die österreichischen Juden bis zum Holocaust vom Erfolg ihrer Assimilation überzeugt waren, überschätzen die Kindeskinder ihre gesellschaftliche Position, da sie den krassen Widerspruch zwischen ihrer kleinen Anzahl und relativ großen medial-politischen Präsenz nicht erkennen wollen.

Negationen bieten nie Schutz und Sicherheit - aus Trotzreaktionen kann kein Selbstbewusstsein erwachsen. Wirkliche Sicherheit muss von innen, mit realen Bausteinen aufgebaut werden. Ob sympathisch oder nicht, sie gewähren eine unerschütterliche Sicherheit. Selbstbewusstsein, auch das jüdische, kann nur aus einer Identität erwachsen. Am leichtesten haben es wirklich religiöse Menschen; erst recht im Judentum. Dazu zählen in Österreich vor allem die fälschlich als "russische Juden" bezeichneten Gruppen. Die meisten säkularen Juden müssen sich mit ihrer Scheinsicherheit aus der Negation begnügen.

"Wir sind keine verschwindende Diaspora, sondern eine Ansammlung zahlreicher Untergruppen, deren Lebensgewohnheiten vermuten lassen, dass deren Angehörige ganz verschieden mit ihrer jüdischen Identität umgehen", sagt der US-Philosoph Brian Klug.

Neben dem Holocaust ist das einzige Bindeglied zwischen leicht- und gar-nicht-religiösen Juden die innere Beziehung und Bejahung Israels. 1999 wurde auf einer großen Konferenz in Pittsburgh verkündet: "Wir sind dem Staat Israel verpflichtet und freuen uns an seinen Errungenschaften." Selbst politische Meinungsverschiedenheiten unter allen Juden, zum Beispiel über die besetzten Gebiete, ändern nichts an der unverbrüchlichen Zuneigung zu Israel.

Peter Stiegnitz ist Soziologe und Korrespondent der jüdischen Zeitschrift "Tribüne" (Frankfurt).

Die Tribüne gibt ausschließlich die Meinung des betreffenden Autors wieder und muss sich nicht mit jener der Redaktion der "Wiener Zeitung" decken.