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Juli Zeh

Von Markus Kauffmann

Reflexionen
Juli Zeh und Markus Kauffmann während ihres Gesprächs im Berliner "Haus des Rundfunks". Fotos: Maichel Dutta

Die Schriftstellerin Juli Zeh plädiert für möglichst viel individuelle Freiheit, spricht über "Corpus Celicti", ihren neuen Roman, und erklärt, wie man lernen kann, in Bildern zu denken.


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Wiener Zeitung: Was schreiben Sie in einem amtlichen Formular in die Spalte "Beruf"? Juli Zeh: Meistens Schriftstellerin, seltener Publizistin.

Und Juristin?

Nein, das wäre gelogen.

Wieso? Sie sind doch ausgebildete Juristin und publizieren auch juristische Texte!

Ja, aber ich übe den Beruf nicht aus. Ich bin kein Rechtsanwalt.

Wann haben Sie die Neigung zum Schreiben in sich entdeckt?

Ganz früh, praktisch mit dem Erwerb der Schreibfähigkeit; also mit sechs, sieben Jahren.

Haben Sie dabei Förderung erhalten, oder mussten Sie Widerstände überwinden?

Weder noch. Höchstens indirekt haben mich meine Eltern gefördert, in dem sie mir eine lesefreundliche Umgebung boten. Ich habe immer sehr viel gelesen - und ich tu das auch heute noch.

Was haben Sie da geschrieben?

Geschichten...

Die Sie dann Ihrem Bruder vorgelesen haben?

Nein! Meinem Bruder habe ich Geschichten erzählt, selbst erdachte und lange. Aber vorgelesen habe ich nichts. Im Gegenteil: Was ich schrieb, blieb immer streng geheim. Ich habe das wie einen Schatz gehütet und machte immer ein Riesen-Brimborium um die Geheimhaltung. Wenn ich mich an ganzen Wochenenden in mein Zimmer einschloss und - beinahe obsessiv - nur schrieb, dann haben sich meine Eltern schon manchmal gewundert und sich gefragt: Was tut die wohl da so lange? Aber sie haben mich nie daran gehindert.

Wie sind Ihre Geschichten entstanden?

Ich habe einfach drauflos geschrieben. Und während des Schreibens hat sich allmählich so etwas wie eine "geschlossene Form" herausgebildet.

Warum haben Sie überhaupt geschrieben?

Für mich selbst; und zwar anfangs ausschließlich. Ich hätte niemals im Traum daran gedacht, etwas zu veröffentlichen. Es ging mir einfach darum, mich selbst zu erfahren, mir über etwas klar zu werden und einem immanenten Bedürfnis zu entsprechen.

Wann haben Sie beschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen?

Der Entschluss kam auf massiven Druck von Freundinnen zustande. Ich hatte damals in Passau Jura studiert und lebte in einer WG. Meine Mitbewohnerinnen bekamen natürlich etwas von meiner Leidenschaft mit, und zögernd zeigte ich ihnen ein paar meiner Texte. Daraufhin bedrängten sie mich, an das damals gerade wiedereröffnete Literaturinstitut in Leipzig zu gehen. Und erst dort hat man mich gewissermaßen "gehirngewaschen".

Zu publizieren war also gar nicht Ihre Entscheidung?

Das Ob habe ich natürlich selbst entschieden. Nur das Wie und das Wann kam auf äußeren Druck zustande. Ich bin damals nach Leipzig gegangen, ohne zu wissen, was mich dort erwartet. Ich war einer der ersten Schüler dort. Ich wollte für mich herausfinden, ob der Beruf der Schriftstellerin etwas für mich sei, ob das mein Weg werden könnte.

Und seither schreiben Sie für die Öffentlichkeit?

Nein. Das verlief - und verläuft auch heute noch - bei mir in zwei Phasen. Anfangs schreibe ich immer nur für mich selber, ohne den Gedanken, etwas zu veröffentlichen. Doch wenn sich das zu einem bestimmten Quantum entwickelt und eine Form angenommen hat, dann frage ich gute Freunde oder meinen Verleger: "Glaubst du, würde sich das für einen Roman eignen, würde das die Leute interessieren?"

Sie erscheinen ja bei Schöffling.

Ja, diese Zusammenarbeit ist für beide Seiten ein Glücksfall.

Kommen wir zurück zu Ihrer Berufswahl. Warum haben Sie ein juristisches Studium ergriffen?

Weil ich zur Zeitung kommen wollte!

Wie bitte? Nehmen die dort nur Juristen?

Meine damalige Berufsperspektive war Journalistin. Man hatte mir dringend geraten, vorerst ein Fachstudium zu absolvieren und ja nicht so Fächer wie "Kommunikationswissenschaften" oder "Publizistik".

Fachstudien gibt es viele. Warum ausgerechnet Juristerei? Hat da die Ausbildung Ihres Vaters mitgespielt?

Mag sein. Aber es kommen immer auch eigene Persönlichkeitsmerkmale und Interessen hinzu. Zum Beispiel mein politisches Interesse.

Ihre Familie war ja sehr politiknahe?

Ja, Politik war bei uns tägliches Gesprächsthema. Aber ich mag diese einfachen Zuschreibungen nicht besonders. Bei der Herausbildung persönlicher Neigungen spielen viele Faktoren eine Rolle. Ich neige dazu, Verantwortung zu übernehmen. Wenn Menschen in meiner Umgebung ein Problem haben, schütte ich sie mit Ratschlägen zu. Und ich bin ständig dabei, kleine Probleme zu lösen.

Ihr politisches Interesse hat sich ja in Ihrer publizistischen Tätigkeit niedergeschlagen. Nach Leipzig sind Sie aber gegangen, ohne zu wissen, was Sie erwartet. Was haben Sie dort gelernt?

Sehr viel. Nicht unbedingt das Schreiben, aber die Kritikfähigkeit, die aus einem mühsamen Lernprozess kommt.

Meinen Sie die Fähigkeit zum Kritisieren oder zum Kritisiert-Werden?

Beides! Bei mir stand zuerst das Erlernen des Kritisieren-Könnens. Das gehört in der Literatur zum Schwierigsten überhaupt. Jeder einigermaßen akzeptable Text hat so etwas wie eine innere Gesetzmäßigkeit, eine Absicht. Bei der Textanalyse kommt es darauf an, diese innewohnende Absicht zu erkennen. Das hat sehr viel mit Gefühl und Intuition zu tun; man muss sie also mehr "erriechen". Und erst dann kann man prüfen, ob die Mittel, die dieser Text einsetzt, auch funktionieren. Ob der Text erreicht, was er will.

Können Sie mit Kritik umgehen?

Ich habe mich dran gewöhnt. Sobald man publiziert, gehört das einfach dazu. Ich freue mich über Lob und ärgere mich über Verriss; aber ich lasse mich nicht davon korrumpieren oder entmutigen. Es ist nicht so, dass ich qualifizierter Kritik ausweiche. Im Gegenteil: Ich habe erst vor kurzem einen Autorenkreis ins Leben gerufen, in dem wir solche kritische Textarbeit machen - sowohl aktiv als auch passiv.

Wie verhält sich bei Ihnen Inspiration zu Transpiration?

Das wird immer schwerer. Früher war das vielleicht 90 : 10, heute ist es 60 : 40. Wenn ein Text fertig ist, wenn er mir gelungen erscheint, wenn er endlich "draußen" ist, dann bin ich erleichtert und kann es mitunter auch genießen. Aber das Schreiben selbst ist manchmal sehr leidvoll. Bei meinen publizierten Texten dauert es unterschiedlich lange, bis ich mich an sie "gewöhnt" habe.

Wie erklären Sie sich Ihren großen Erfolg?

Ich habe keine Ahnung. Viele Leute schreiben mir, was Ihnen an meinen Texten gefällt; aber ich erkenne darin keine Linie, die Bandbreite ist zu groß.

Man hat den Eindruck, was Juli Zeh angreift, wird zu Gold. Unlängst haben Sie sich in einem völlig neuen Genre versucht, im Drama, und haben dafür sofort einen Preis bekommen.

Und sogar einen Theaterpreis! Allerdings besteht das Theaterstück "Corpus Delicti" aus ziemlich viel Prosa. Ich finde aber, man sollte sich nicht allzu viele Gedanken über Unterschiede zwischen den literarischen Gattungen machen.

Auf "Corpus Delicti" kommen wir noch zurück. Was bedeutet für Sie Sprache im Allgemeinen?

Sie macht fast das ganze Wesen unserer Existenz aus. Außerhalb der Sprache gibt es - na ja, da gibt es noch ein bisschen was; aber unser gesamtes Denken vollzieht sich im Medium Sprache.

Verglichen mit anderen Sprachen, haben Sie ein besonderes Naheverhältnis zum Deutschen? (lacht) Na, das geht ja wohl jedem so mit seiner Muttersprache! Fremdsprachen spreche ich so leidlich; aber ich schreibe nur in Deutsch.

Teilen Sie nicht die Befürchtung mancher Sprachforscher, dass Deutsch eine sterbende Sprache ist?

Wir werden in hundert Jahren sicher noch Deutsch sprechen. Aber wer weiß schon, was in fünfhundert Jahren sein wird? Sprachen leben - und können auch sterben. Das war immer so. Und das Eindringen fremdsprachiger Einflüsse ist etwas ganz Normales.

Fürchten Sie nicht, dass mit dem Sterben einer Sprache auch die begriffliche und kulturelle Vielfalt kleiner wird, dass wir ärmer werden?

Sicher, in diesem Sinne birgt jede Sprache ihren eigenen Reichtum. Aber ich teile nicht diesen Pessimismus. Mal angenommen, in einem vereinten Europa gäbe es nur noch ein "Einheits-Europäisch" - und wenn es Englisch ist - dann rechne ich mit einer extremen Dialektisierung, die den regionalen und kulturellen Unterschieden entspricht. Die Vielfalt würde sich auf diesem Wege wieder einstellen.

Was halten Sie von "Deutsch ins Grundgesetz"?

Nichts. Erstens sollte man Verfassungen nicht mit noch so Wünschbarem voll stopfen; das ist nicht der Sinn eines Grundgesetzes, sondern Aufgabe der Politik. Und zweitens ist diese Initiative ja nicht der Liebe zur Sprache entsprungen, sondern ein Affront gegen nicht-deutsche Mitbürger: "Ihr Türken, lernt erst alle mal Deutsch!" Überhaupt bin ich gegen Reglementierungen im Bereich der Sprache. Ich habe auch von der Rechtschreibreform wenig bis nichts gehalten. Ich liebe die deutsche Sprache, ich möchte auch, dass wir sorgfältig mit dem umgehen, was wir haben. Aber staatliche Eingriffe lehne ich ab.

Was macht Ihnen mehr Freude: Eine schöne Formulierung oder eine treffende?

Ich sehe da keinen Unterschied! Jedenfalls kenne ich keine hässliche Formulierung, die treffend wäre. Kennen Sie eine?

Naja, ich denke da vielleicht ein bissel österreichisch...

Also, wenn ich irgendwo eine tolle Formulierung lese, die aber inhaltsleer ist, fühle ich mich als Leser verschaukelt. Da schalte ich sofort ab.

Im Gegensatz zu manchen Kritikern freue ich mich über Ihren Metaphernreichtum. Ich finde, dass Sie damit unsere Sprache ungemein bereichern.

Das sehen aber viele ganz anders.

Wie kommen Sie auf diese Bilder, Vergleiche, Metaphern? Das muss doch sehr mühsam sein!

Nein, ich denke in Bildern. Wenn ich mir selbst etwas erklären muss, greife ich zu Bildern. Ja, bei mir ist zuerst das Bild da und dann erst der Begriff. Das Bild geht dem Text voraus.

Haben Sie denn gar keinen praktischen Tipp für jemanden, der diese Fähigkeit erlernen will?

Doch! Man sollte mit offenen Augen durch die Welt gehen und ständig nach Ähnlichkeiten, Querverbindungen, Assoziationen suchen. Wenn ich hier zum Beispiel zum Fenster rausschaue (zeigt auf Messepalast und Funkturm) , erinnert mich das an einen Kreuzfahrtdampfer.

Stichwort: Wache Augen. In Ihren Texten manifestiert sich eine ungeheure Feinsinnigkeit und Beobachtungsgabe. Es wirkt so, als könnten Sie jedem hinter die Fassade schauen.

Meine Eltern bescheinigten mir schon früh diese Beobachtungsgabe. Schon als Kind konnte ich an unseren Besuchern das Charakteristische herausfinden, sozusagen deren "schwachen Punkt". Dort liegen vielleicht auch die Wurzeln meines Schreibtalents. Ich hörte den Leuten gut zu. Und spürte sehr bald, dass ihren Erzählungen eine Art narratives Muster zugrunde lag. Ein Muster, das in seinen Grundzügen aristotelisch ist und sich in Jahrtausenden nicht wesentlich verändert hat.

Wie lang arbeiten Sie an einem Roman?

Unterschiedlich. An "Spieltrieb" vielleicht vier bis fünf Monate. Das liegt auch an meiner Arbeitsweise. Ich schreibe einfach drauflos. Dann entwickeln sich Figuren mit bestimmten Eigenschaften. Und die begegnen einander, wie im richtigen Leben. Ich kann nicht immer im voraus sagen, was sich daraus ergibt.

Auch wenn das esoterisch klingen mag, wenn manche sagen, der Text "fließe durch sie hindurch" - bei mir ist da tatsächlich etwas dran. Das addiert sich, bis ein gewisses Volumen und eine Geschlossenheit erreicht werden - oder bis ich mir selbst sage, ich sollte das jetzt abrunden. Das ist dann die Grundlage für meinen Roman. Ich schreibe aber keine Mosaikstücke: Heute eine Geschichte über einen Raben und morgen eine über Ada beim Joggen. Was entsteht, hat einen inneren Zusammenhang, eine innere Logik.

Schon in diesem Gespräch wird deutlich, dass Freiheit für Sie ein hohes Gut ist. Das ist auch eines der Themen in "Corpus Delicti", Ihrem jüngsten Roman, der eben erschienen ist.

Ja. Ich finde, dass es uns in West- und Mitteleuropa wirklich sehr gut geht, so gut wie noch nie in der ganzen Geschichte. Und ich kann das Gerede nicht mehr hören, wie krank und bedroht unsere Gesellschaft sei. Aus dieser - falschen - Diagnose heraus werden politische Tendenzen wahrnehmbar, die jene Balance bedrohen, die unsere Gesellschaft erreicht hat. Der Staat begründet damit immer mehr Übergriffe auf die individuelle Freiheit. Und überschreitet damit Grenzen.

Sie haben beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen die zwangsweise Abnahme von Fingerabdrücken für Reisepässe eingelegt.

Ja! Wenn der Staat bereits auf die Körper der Menschen zugreift, ist das die Vorstufe zum Totalitarismus. Leider finde ich mit dieser Meinung keine politische Heimat, weil dies fast alle Parteien auf ihrer Agenda haben.

Der Zugriff des Staates auf die Körper der Bürger ist ja auch das Thema von "Corpus Delicti". Das System, die Doktrin heißt in dem Roman "Methode".

Geht Ihr Freiheitsbegriff so weit, das Recht auf Krankheit zu postulieren?

Ja. Dabei sollte man nicht übersehen, dass Mia Holl, die Hauptfigur, ursprünglich eine Anhängerin der "Methode" ist, also sehr auf ihre Gesundheit achtet. Sie erkennt nur allmählich den totalitären Charakter der "Methode".

Beim Lesen musste ich oft an "Clockwork orange" denken, den Film von Stanley Kubrick, bei dem es ja um die Frage geht, ob es schlechter ist, den Menschen zum Gutsein zu konditionieren, oder ihm die Freiheit zu lassen, böse zu sein.

Ja, das ist natürlich alles zugespitzt. Wir reden von Extremen. In der realen Gesellschaft geht es um eine Abwägung, um die Gewichtung von Werten. Und da steht für mich die Freiheit tatsächlich an erster Stelle. Im wirklichen Leben sind wir beides: Ein bisschen Orange und ein bisschen Clockwork. Mir geht es darum, dass der Staat nicht seine Grenzen überschreitet.

Die Heldin des Romans behauptet von sich, die Argumente jeder Seite genauso perfekt vortragen zu können wie die Gegenargumente der Gegenseite. Kann man sich dann überhaupt noch entscheiden?

Ich wollte genau dieses Dilemmatische aufzeigen. Im Privatleben habe ich meist keine Schwierigkeiten, da bin ich rasch von Entschluss. Abwägen ist wichtig; aber irgendwann muss Schluss sein, und dann muss eben entschieden werden.

Auf dem Feld der Politik hingegen bereitet mir das manchmal echte Schwierigkeiten. Nehmen Sie Afghanistan. Ich habe wirklich viel darüber gelesen, mit Leuten gesprochen, die dort waren. Und ich kann nicht ein Jota in die eine oder andere Waagschale werfen. Ich war ursprünglich gegen den Einsatz und wünsche, die Bundeswehr hätte sich nicht daran beteiligt. Nun kann ich aber auch nicht guten Gewissens sagen: Holt die Bundeswehr raus und überlasst die Lage sich selbst! Ich will nicht, dass die Soldaten bleiben, und ich will auch nicht, dass sie gehen. Das hat zur Folge, dass ich hier praktisch gelähmt bin.

Und was tun Sie dann?

Jedenfalls werde ich mich dazu nicht äußern, und keinen Essay schreiben. Wenn ich zu Afghanistan gefragt werde, muss ich sagen: Leute, ich hab dazu keine Meinung!

Das ist natürlich fatal! Denn unsere Demokratie lebt von der Entscheidungsfähigkeit ihrer Bürger. Ein Staat der Unentschlossenen kann nicht auf demokratische Weise geführt werden. Demokratie will, dass sich ihre Bürger entscheiden; aber - Können vor Lachen! Ich glaube sowieso, dass das Projekt Aufklärung, hinter dem ich hundertprozentig stehe, noch lange nicht fertig, das Hochziel der Mündigkeit noch lange nicht erreicht ist.

Wohin führt das "Anything goes" der moralischen Postmoderne?

Nirgendwo hin.

Die werteweisenden Institutionen sind aber doch wirkungslos geworden.

Nun, ich bin keineswegs für eine Revitalisierung der Kirchen. Wir haben im Zuge der Aufklärung so vieles abgeschafft, was auch nötig und gut war, aber wir haben dabei ganz vernachlässigt, Neues anzuschaffen.

Warnen Sie mit "Corpus Delicti" davor, dass ein Rückfall in autoritäre Systeme droht, wenn wir das nicht zum guten Ende bringen, was Sie das Projekt Aufklärung nennen? Ja. Die Menschen leiden unter dem Zwang, nichts so lassen zu können, wie es ist. Der Wunsch nach Verbesserungen kann zerstörerisch sein. Ich warne davor, unsere gut funktionierenden Gesellschaften kaputt zu machen, indem man sich einredet, wir bräuchten ein utopisches Maß an Sicherheit in unserem Leben.

Ist es nicht gerade eine Folge der Aufklärung, dass sich der Mensch verabsolutiert, weil er sich an die Stelle Gottes gesetzt hat; weil er das Unverfügbare verfügbar gemacht hat?

Das Gefährliche besteht vor allem darin, dass der Mensch seine Meinungen verabsolutiert. Es ist Teil der Mündigkeit (oder mit einem anderen Begriff: des Erwachsenwerdens) zu erkennen, dass es auf Erden keine absoluten Wahrheiten geben kann und dass jede Meinung nur für den Gültigkeit besitzt, der sie hat.

Zur Person

Juli Zeh, geboren 1974, die mit "Adler und Engel" als 27-Jährige im Sommer 2001 ihr Romandebüt gab, ist heute, in der Mitte ihrer Dreißiger, eine der erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen. Geboren in Bonn, wo ihr Vater als Jurist im Bundestag tätig war, studierte sie Rechtswissenschaften in Passau und Leipzig. Dort schloss sie sowohl ein Jusstudium als auch ein Studium am "Deutschen Literaturinstitut" ab. 1996 begann sie zu publizieren - zunächst Kurzgeschichten und Essays.

Den von der Kritik bejubelten Romanen "Adler und Engel", "Spieltrieb" und " Schilf" folgt nun ihr neuestes Werk "Corpus Delicti", das aus einem Theaterstück entstanden ist (eine Rezension dieses Buches findet sich auf S. 11). Zehs souveräne Sprachbeherrschung, ihr Erzähltalent und ihre sprudelnde Metaphorik gehören zu ihren literarischen Stärken. Darüber hinaus mischt sie sich engagiert in das Zeitgeschehen ein. Vor kurzem legte sie Verfassungsbeschwerde gegen den Fingerabdrucks-Zwang bei Reisepässen ein. Und sie setzt sich für die Integration des östlichen und südlichen Mitteleuropa in die EU ein.

Markus Kauffmann, geboren in Wien, lebt als Journalist in Berlin. Er berichtet von dort als Korrespondent der "Wiener Zeitung".

Siehe auch: Buchkritik Corpus Delicti