Die EU-Kommissare stehen fest, neun davon sind Frauen. Dazu kommt ein Umbau, der viele beunruhigt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Vexiere sind Geduldspiele, bei denen ein Teil abzunehmen oder anzubauen ist, es geht um sinnvolles Entwirren oder Zusammensetzen. Jean-Claude Juncker, der neue EU-Kommissionspräsident, bedient sich bei den neuen Kommissaren dieses Spiels. In den vergangenen 48 Stunden tauchten gleich mehrere Variationen der neuen EU-Kommission auf, Brüssel gleicht einem Fragezeichen.
Starke Vize-Präsidenten
Fix ist - wie berichtet - eines: Die Kommission, für die jedes der 28 EU-Mitgliedsländer eine Person nominieren kann, wird völlig neu organisiert. Auf sechs oder sieben Vizepräsidenten verteilen sich die großen Projekte der nächsten fünf Jahre: Wachstums- und Währungspolitik, Außenpolitik, Energie, digitaler Binnenmarkt, stärkere Integration der EU-Politik, Budget und Implantierung des 300-Milliarden-Investitionsprogramms. "Die EU-Kommission wird stärker zur Regierung, wir begrüßen diese Entwicklung", ist von Christ- und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament zu hören.
Alle anderen EU-Kommissare arbeiten mit ihren Zuständigkeiten diesen "Super-Kommissaren" zu. Der niederländische Sozialdemokrat und jetzige Außenminister Frans Timmermans soll einer dieser starken Vizepräsidenten sein, die Italienerin Federica Mogherini als EU-Außenbeauftragte ebenfalls.
"Was Juncker macht, ist eine Premiere, wir sind gespannt", ist aus der Europäischen Volkspartei zu hören. Noch zwei Frauen haben beste Chancen, zum "Kernteam" zu gehören, berichtet der Brüsseler EU-Blog "euractiv": die polnische Verkehrs-Ministerin Elzbieta Bienkowska und die frühere slowenische Regierungschefin Alenka Bratusek.
Belgien "bezwungen"
Da auch Belgien, nach einer unüblich harten Aktion Junckers, mit der EU-Abgeordneten Marianne Thyssen doch noch eine Frau nominierte, hat Juncker nun seine neun Frauen beisammen. Belgien nominierte zuerst Didier Reynders, früherer Finanzminister und Regierungschef. Juncker war dagegen und kündigte an, Reynders mit dem unwichtigen Bereich "Mehrsprachigkeit" abzufinden. Politisch ein Affront, doch Belgien reagierte und bracht Thyssen.
Hektisches Wochenende
Übers Wochenende wird noch gebastelt, wer exakt wofür zuständig sein wird, spätestens kommenden Dienstag gibt Juncker dies bekannt. Denn der intime Kenner der Brüsseler Fallstricke ist offenkundig nicht nur entschlossen, sich sein Team selbst zusammenzustellen, sondern will auch den Terminplan halten. Es gilt nun als ziemlich sicher, dass am 29. September die Hearings der Kandidaten im Europäischen Parlament beginnen, sie dauern bis 10. Oktober. Am 23. Oktober folgt dann die Abstimmung im Parlament, am 1. November beginnt die Arbeit.
Auch hier wählte Juncker einen neuen Weg: Es finden laufend Konsultationen mit den Fraktionsspitzen im Europäischen Parlament statt, denn Juncker will sein Team und deren Ressortverteilung vollständig durch die Hearings bringen.
Zuletzt fielen immer wieder Kandidaten durch und mussten nachbesetzt werden.
Dass Juncker ein anderes Kaliber als seine Vorgänger ist, müsen derzeit die Regierungschefs zur Kenntnis nehmen. Dass der Franzose Pierre Moscovici einer der "Super-Kommissare" wird, ist eher unwahrscheinlich. Er könnte Wettbewerb erhalten, ein großes Ressort. Aber er müsste - je nach Thema - den Super-Kommissaren zuarbeiten. Frankreichs Präsident François Hollande soll toben. Umgekehrt haben die Konservativen in Laibach wenig Freude, dass die Sozialdemokratin Bratusek zum Zug kommt.
Gewinner Polen
Zu den Gewinnern in Brüssel gehören ganz eindeutig Polen. Ihr Regierungschef Donald Tusk wird EU-Ratspräsident und Nachfolger von Herman Van Rompuy. Und Elzbieta Bienkowska eine Vizepräsidentin der Kommission.
Soziales für Hahn?
Für den österreichischen Kommissar Johannes Hahn wurde zuerst Verkehrspolitik, danach Nachbarschaftspolitik genannt. Auch hier das bekannte Junckersche Vexierspiel. Tatsächlich dürfte Johannes Hahn den Bereich Sozialpolitik übertragen bekommen. Derzeit bearbeitet Laszlo Andor diesen Bereich. Der andor aber nicht zur Orban-Partei gehört, scheidet er aus. Auf Hahn kämen mit der Aufgabe ziemliche Brocken zu. Im Gespräch ist eine Art Sozial-Union. So wird in der Kommission heftig über die Umsetzung einer europäischen Arbeitslosenversicherung nachgedacht. Da Sozialpolitik bisher eindeutig nationale Angelegenheit ist und die EU-Kommission da noch geringe Kompetenzen hat, muss Hahn die 28 Regierungen überzeugen, einen Teil dieser Agenda auf europäische Ebene zu hieven.
Das wird übers Wochenende zu hektischen Aktivitäten der Staatskanzleien und jeweiligen Parteichefs führen. "Juncker lässt sich wenig dreinreden, er will die Kommission zu alter Stärke führen", sagte ein langjähriger Weggefährte zur "Wiener Zeitung". In der Tat ist der Umbau der Kommission ein Paradigmen-Wechsel für Brüssel. Die Bürokratie soll zurückgedrängt, die Sacharbeit vorangestellt werden. Juncker weiß immerhin, was er tut. Als luxemburgischer Regierungschef war er Vorsitzender der Euro-Gruppe während der Finanz- und Schuldenkrise. Nicht nur der Rat der Regierungschefs reagierte darauf anfangs eher hilflos, auch die EU-Kommission stand etwa den Griechenland-Problemen lange Zeit gelähmt gegenüber.
Der 59-jährige Luxemburger will die Kommission beweglicher und politischer machen. Dazu wird auch gehören, dass er die sogenannten Generaldirektionen, also den mächtigen Beamtenapparat der Kommission, durcheinanderwirbelt. Die für die Entwicklung des Binnenmarktes zuständige "Abteilung" dürfte in der neuen Organisation aufgeteilt werden. Kleinere Einheiten sollen schneller reagieren können.
Nicht einmal das mächtige Deutschland konnte sich vollständig bei Juncker durchsetzen. Der wie Hahn weiterhin als EU-Kommissar nominierte Oettinger bekommt zwar das einflussreiche Handels-Dossier und ist damit zuständig für das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA. "Super-Kommissar" dürfte er allerdings nicht werden. Oettinger und Juncker liegen deswegen im Streit, die Diskussion wird wohl übers Wochenende gehen.
Umbau überall
Die EU-Kommission kann sich diesen Umbau selbst verordnen. Bei der Änderung der Geschäftsordnung haben weder der Rat noch das Parlament eine offizielle Mitsprache-Möglichkeit.
Interessant ist auch, dass Juncker nicht nur den Bereich Binnenmarkt, sondern auch den Bereich Industrie auf mehrere Kommissare aufteilt. Insgesamt wird die neue Kommission aber deutlich industriefreundlicher als die alte. Juncker nahm damit vorweg, was der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, gestern forderte: Die Politik müsse Reformen und finanzielle Spielräume schaffen, um das Wirtschaftswachstum in Europa anzukurbeln.
Der Umbau der Kommission, der sich ein wenig an den Ausschüssen des Parlaments orientiert und die Kooperation damit erleichtert, wird in Brüssel heftiges Sesselrücken auslösen. Die Lobbying-Organisationen werden sich wohl oder übel dem anpassen müssen.
Einen Stolperstein wird Juncker in den kommenden Tagen noch beiseite schieben müssen, Großbritannien. Der britische Regierungschef Cameron verlangt für den von ihm nominierten Kommissar Jonathan Hill ein wichtiges Ressort. Da Cameron allerdings offen gegen die Wahl Junckers aufgetreten ist, dürfte dessen Wohlwollen eingeschränkt sein.
Fünf Ex-Regierungschefs
Eine große Rolle wird auch der ehemalige finnische Regierungschef Katainen spielen, der für Währungspolitik zuständig sein wird. Damit prüft er die Budgetentwicklung in den 28 Mitgliedsstaaten.
Die neue Kommission wird insgesamt deutlich selbstbewusster auftreten als die frühere. Im Juncker-Team befinden sich fünf ehemalige Regierungschefs, die selbst einmal dem Europäischen Rat angehörten. Sie kennen die Debatten dort, und damit auch die nationalen Eigenheiten. Keine Kommission davor verfügte über dieses Know-how.
Die "Super-Kommissare" dürften sich darüber hinaus auch große Flexibilität bei Kompetenzen erhalten. Wenn aktuelle Probleme auftauchen (etwa die Ukraine-Krise), soll einer dieser Vizepräsidenten das gesamte Projekt übernehmen. Da dies in der jetzigen Organisation mehrere Generaldirektionen beschäftigt, die zu unterschiedlichen Kommissaren gehören, kommt es ständig zu Reibungs- und Zeitverlusten.
"Jean-Claude Juncker ist ein Integrationist, er will eine starke Kooperation Europas. Alle seine Vorschläge gehen in diese Richtung", ist aus Brüsseler Denkfabriken dazu zu hören.