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Jungbrunnen für Körper und Seele

Von Thomas Karny

Wissen

Lange Zeit galt die Kur als Luxusaufenthalt für Aristokraten und Reiche. Heute ist sie eine medizinische Dienstleistung des modernen Wohlfahrtstaates.


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Höhere Lebenserwartung, längere Arbeitszyklen, negative Umwelteinflüsse und eine ungesunde Lebensweise führen zu einem Anstieg körperlicher und psychischer Leiden, die nach einer präventiven oder rehabilitativen Behandlung verlangen und den Health- und Wellnessbereich boomen lassen.

Legendär seit Goethes Tagen: Marienbad, eines der Kurzentren Böhmens.

Die Ausdifferenzierungen seiner Angebote haben ein Spezialistentum hervorgebracht, dessen Wissen sowohl den Gästen der zahlreichen Spas und Thermen zugutekommt als auch die Rehabilitanden in den rund 75 österreichischen Kurorten wieder fit für den Alltag machen soll. Man trinkt Wasser mit spezifischen Inhaltsstoffen, lässt sich Moor, Schlamm oder Erde auflegen, atmet Luft von kontrollierter Qualität, setzt sich in dicke Decken gehüllt in Heilstollen, vertraut auf die Wirkkraft von Naturquellen und genießt gutes Bio-Klima. Ergänzend dazu gibt es eine ganze Palette von therapeutischen Maßnahmen, die den Gesundheitszustand des Einzelnen verbessern sollen und im Optimalfall zu einer Änderung des Lebensstils führen. Damit sich ein Kurort auch als solcher bezeichnen darf, muss das Heilvorkommen behördlich anerkannt sein und ortsgebunden genutzt werden.

Lange bevor sich die Balneologie als Wissenschaft herausgebildet hatte, wusste man bereits in der Antike um die gesundheitsfördernden Eigenschaften des Wassers, des Bodens und des Klimas. In den griechischen Asklepien wurden Kurbehandlungen vorgenommen, deren Ablauf durchaus modern klingt: Neben dem Auflegen von Schlammpackungen und dem Einsatz der Hydrotherapie, bei der Wassergüsse, -bäder und -wickel zur Stärkung der Gesundheit angewandt wurden und als deren früher Befürworter Hippokrates gilt, waren sportliche Wettkämpfe zur körperlichen Ertüchtigung und Regenerationsphasen mit Massagen vorgesehen. Gottesdienste dienten der inneren Einkehr, und der Austausch mit Philosophen hatte wohl einen den heutigen psychotherapeutischen Gesprächen ähnlichen Effekt.

Das Römische Reich schließlich brachte das Bäderwesen zur vollen Entfaltung. Es entstanden luxuriöse Thermen mit überdachten Sportplätzen, Spielhallen, Geschäften und Gaststätten. Bald umspannte das gesamte Herrschaftsgebiet ein dichtes Netz von Thermalbädern und Heilzentren, deren therapeutische Wirkung analysiert und niedergeschrieben wurde. Berühmte Kurorte wie Baden-Baden und Wiesbaden gehen auf römische Gründungen zurück, und auch die warme Schwefelquelle von Baden bei Wien war schon im ersten Jahrhundert n. Chr. bekannt. Im 4. Jahrhundert gab es allein in Rom elf große Thermenanlagen und rund 900 öffentliche Bäder!

Angst vor dem Wasser

Mit dem Untergang des weströmischen Reichs verschwand auch die mitteleuropäische Badekultur. Erst die Kreuzfahrer haben sie in den islamischen Ländern wieder entdeckt und in Europa neu eingeführt. Badehäuser, die der Hygiene, der Erholung und dem Vergnügen gleichermaßen dienten, erlebten eine Hochblüte. Es entwickelte sich das neue Berufsbild des Baders, das sowohl das Badewesen als auch die Körperpflege und Teilgebiete der Medizin umfasste. In Wien waren die Bader in einer Zunft organisiert, deren klar reglementierte Ausbildung ein abschließendes Meisterexamen an der Medizinischen Fakultät vorsah.

Heilkraft des Mineralwassers aus Spa.

Im 16. Jahrhundert fand die Tradition des gemeinsamen Bades ein jähes Ende, da man in ihm den Überträger todbringender Krankheiten vermutete. Während die Medizin bis ins Rokoko vor allzu häufiger Anwendung von Wasser zur Körperpflege warnte, erfreuten sich gleichzeitig natürliche Mineralquellen großer Beliebtheit. Als sich aus Pyrmont die Nachricht verbreitete, das dortige Wasser habe heilende Wirkung, erlebte der niedersächsische Ort um 1550 ein derart "großes Wundergeläuf", dass der ansässigen Bevölkerung die Nahrungsmittel ausgingen. Der Mythos vom "Jungbrunnen" entstand, das "Wildbad" fernab jeglicher Zivilisation wurde chic.

Ausgehend von England und Deutschland erfuhr das Bäderwesen ab dem 18. Jahrhundert einen enormen Aufschwung. Die pompöse Pracht des meist im klassizistischen Stil errichteten Ensembles aus Kurhaus, Thermalbad, Trink- und Wandelhalle war das architektonische Ausrufungszeichen an jene, die hier willkommen waren: die Aristokratie und vermögende Bürgerschicht. Für sie gehörte der Kuraufenthalt zum Lifestyle. Auch wenn das lokale Naturvorkommen Heilung versprach, gekommen sind die meisten doch wegen des reichhaltigen Unterhaltungsangebots aus Theatervorführungen, Konzerten, italienischen Nächten und Pferderennen sowie der Kontakte, die man hier knüpfen konnte. Gleichwohl brachte die Kur zeittypischen Krankheiten wie Stoffwechselstörungen, die vor allem durch die einseitige Ernährung während der Wintermonate hervorgerufen wurde, und den weit verbreiteten rheumatischen Beschwerden durchaus Linderung. Zwischen den Anwendungen flanierte man in den großzügig angelegten, von der englischen Gartenarchitektur inspirierten Parkanlagen oder zog sich in die Spielkasinos, Wintergärten und Konzertsäle zurück. Die Zuwachsraten waren gewaltig, das Kurwesen wurde zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor, der Wohlstand und Arbeitsplätze brachte. Zählte etwa die prominente Destination Wiesbaden um 1800 noch rund 8000 Gäste, so waren es hundert Jahre später 136.000.

Von links nach rechts: In Bath, England, sind die Ruinen der römischen Therme noch gut erhalten. Kur vor 2000 Jahren: Der Eingang der Therme von Herculaneum bei Neapel. Schwefelquelle in Baden.

Aus so mancher Ansiedlung wurde dank einer Heilquelle ein Kurort mit heute klangvollen Namen: Bad Kissingen in Deutschland, Leukerbad in der Schweiz, Spa in Belgien oder Gastein in Österreich, das sich mit der Errichtung der Filialbadeanstalt Hofgastein 1828 und dem Bau der Tauernbahn vom spartanischen Wildbad zum mondänen Weltbad entwickelte. In Ischl war das beschauliche Dorfleben fast schlagartig beendet, als die heilbringende Wirkung der Solebäder bekannt wurde. Bereits 1824, ein Jahr nach der Eröffnung des ersten Heilbades, begrüßte man Staatskanzler Fürst Metternich als Kurgast, wenige Jahre später Erzherzog Franz Karl mir Gemahlin, ein Paar, bei dem sich als spektakulärer Kurerfolg der erste Nachwuchs einstellte: Franz Joseph, der spätere Kaiser. Bald prägten neben der weitläufigen Kuranlage noble Hotels, ein Theater und vornehme Sommervillen das Ortsbild. 1907 wurde die Umbenennung in Bad Ischl vorgenommen, 1920 die Bezeichnung Kurort zuerkannt.

Moderne Klassiker

Lange Zeit war das vorübergehend verpönte Wasser das auf Kuren eingesetzte Allheilmittel. Seine Anwendung basierte entweder auf wissenschaftlicher Erkenntnis oder auf oftmals zunächst bei Tieren angewandten und dann auf den Menschen erfolgreich übertragenen Behandlungsmethoden. Die Landwirte Vinzenz Prießnitz und Johann Schroth entwickelten alternative Heilpraktiken, die Ärzte Siegmund Hahn und Christoph Wilhelm Hufeland veröffentlichten ihre Ansichten vom Kaltbaden, und ihrem Kollegen Friedrich Hoffmann gelang zu Beginn des 18. Jahrhunderts die bis heute gültige Einteilung der Mineralquellen nach Bitterstoffen, Eisen und Salzen. Sebastian Kneipp schließlich machte die Wasserkur populär, um 1890 gab es in Mitteleuropa über 100 Wasserheilanstalten.

En vogue waren Trinkkuren, bei denen die Badegäste von früh bis spät wahre Unmengen an Wasser aus den Mineralbrunnen zu sich nahmen und gewisse Nebenwirkungen als durchaus erwünscht galten: In Bad Schwalbach stand ein bekannter "Furzbrunnen", in Leukerbad sprudelte die "Kotzquelle". Die Nachfrage nach den speziellen Wässern war bald so groß, dass sich daraus eine eigener Wirtschaftszweig, die Mineralwasserabfüllung, herausbildete, wobei Niederselters in Hessen und Vichy in Frankreich besonders populär waren.

Nicht nur aus den Schilderungen in Thomas Manns "Zauberberg" ist uns das Sonnenbad von Patienten vertraut, die mehrere Stunden täglich auf Liegestühlen im Freien oder in offenen Liegehallen verbrachten, um ihr Lungenleiden zu kurieren. Obwohl der Schweizer Arzt Emil Müller bereits 1875 nachgewiesen hatte, dass auch Menschen, die dauerhaft im als heilsam geltenden Höhenklima leben, an Tuberkulose erkranken können, wurde die Luftkur noch bis weit in das 20. Jahrhunderts eingesetzt. Dem famosen Image, das die Kombination aus reiner Luft, sauberer Umgebung und hellem Sonnenschein schuf, und den dahinterstehenden geschäftlichen Interessen konnten auch wissenschaftliche Beweise lange wenig anhaben.

Im böhmischen Bäderdreieck Karlsbad, Franzensbad und Marienbad wurden die ersten modernen Moorbäder eingerichtet. Ein ausgewiesener Experte der Kurszene zeigte sich jedoch wenig begeistert. Johann Wolfgang von Goethe, der zwischen 1785 und 1823 nicht weniger als 22 mitteleuropäische Kurorte besuchte, schrieb über seinen ersten Aufenthalt in Marienbad 1820: "Mir war, als befände ich mich in den nordamerikanischen Wäldern, wo man in drei Jahren eine Stadt baut." Dennoch stieg es gemeinsam mit Karlsbad, wohin bald schon 10.000 Menschen jährlich strömten, zum Klassiker des Kurwesens auf.

Das kleine Wiesbaden wurde plötzlich mondän.

Heute sind Kuren nicht mehr einer gut betuchten Oberschicht vorbehalten, sondern medizinische Dienstleistungen, deren Kosten zum Großteil die öffentliche Hand übernimmt. Schon 1799 wurde im böhmischen Teplitz ein "Armenbad" eingerichtet, in dem auch finanziell weniger bemittelte Personen eine Kur absolvieren konnten. Sie hatten sich dabei an ein strenges Bettelverbot zu halten und mussten zur Kennung ein Messingschild tragen.

Die Demokratisierung des Kurwesens ging - über den Zwischenschritt der Sommerfrische - aber erst mit der Entstehung der Sozialversicherung einher. Wiewohl die über Jahrzehnte hinweg schlichte Unterbringung in den Kuranstalten mittlerweile durchaus Hotelstandard erreicht, nimmt man hier nicht zuletzt wegen des straff strukturierten Tagesablaufs den medizinisch-therapeutischen Charakter deutlich stärker wahr als den Wellness-Faktor. Man muss kein ausgesprochener Langschläfer sein, um die Morgentermine chronisch als zu früh angesetzt zu empfinden. Die Behandlungsmethoden sind vielfältig, die gesundheitsinduzierten Appelle an den post-kuralen Lebenswandel eindringlich. Viele von den etwa 100.000 Personen, die pro Jahr in Österreich eine in der Regel drei Wochen lange Kur absolvieren, werden danach aber vor allem eines tun: einen Wiederantrag stellen, weil’s ja doch so schön war.

Artikel erschienen am 5. Oktober 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 4-9