Zum Hauptinhalt springen

Juschtschenkos Image hat erste Kratzer bekommen

Von Piotr Dobrowolski

Politik

Im Fall des vor über vier Jahren ermordeten ukrainischen Journalisten Georgi Gongadse ist am Donnerstag erstmals Ex-Präsident Leonid Kutschma einvernommen worden. Kutschma steht im Verdacht, die Ermordung Gongadses persönlich angeordnet zu haben. Ob die politischen Morde seiner Amtszeit jemals aufgeklärt werden, bleibt dennoch ungewiss.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Worüber Kutschma von der Staatsanwaltschaft befragt wurde, darüber wollte ihr Sprecher, Wiatscheslaw Astanow, auch gestern keinerlei Auskünfte geben. Ebenso wenig gab es Informationen, ob sich der Verdacht auf eine Mittäterschaft des Ex-Präsidenten erhärtet hat und ob Kutschma mit weiteren Einvernahmen im Fall Gongadse zu rechnen hat.

Der Journalist Gongadse, der unzählige Korruptionsvorwürfe gegen die Regierungsclique um Kutschma dokumentiert hat, wurde am 16. September 2000 entführt und nach bestialischer Folter getötet. Seitdem war er für die um eine demokratische Wende kämpfenden Ukrainer zu einem Symbol geworden.

"Wir sind knapp davor, den Fall Gongadse zu lösen", kündigte der neue Präsident Juschtschenko noch Mitte vergangener Woche an. Doch schon zwei Tage später wurde der Kronzeuge, der gegen Kutschma aussagen sollte, Ex-Innenminister Juri Krawtschenko tot in seiner Datscha am Stadtrand von Kiew gefunden. Auf einmal wurde aus dem Superaufklärer Juschtschenko ein Buhmann.

Wieso, fragte die meinungsbildende Wochenzeitung "Zerkalo Tyschnia", habe man den in die Gongadse-Ermordung verwickelten Krawtschenko nicht in Untersuchungshaft genommen, um einen Selbstmord zu verhindern? Offenbar habe die Staatsanwaltschaft Krawtschenko gerade deshalb von seiner bevorstehenden Einvernahme informiert, weil sie ihm Zeit für einen Selbstmord gewähren wollte, spekulierte die einst von Gongadse gegründete "Ukrainska Prawda".

Der Vorwurf ist nicht so absurd, wie er sich anhören mag. Denn auf dem Posten des Generalstaatsanwalts der Ukraine sitzt mit Swiatoslaw Piskun ein Mann, der diese Funktion bereits unter Kutschma innehatte, bevor er sich mit ihm zerstritt. Insider behaupten, ein gewisses Maß an Solidarität zu seinem Ex-Chef hätte sich Piskun dennoch behalten. Er würde, so heißt es, die Aufklärung des Gongadse-Falls daher so führen, dass Kutschma als möglicher Hintermann unbehelligt bleibt.

Da der nun tote Innenminister Krawtschenko einer der wenigen Zeugen bei jenem Gespräch war, bei dem Kutschma den Befehl gegeben haben soll, "Gongadse zu neutralisieren", ist für den Ex-Präsidenten die Situation tatsächlich inzwischen viel besser geworden. Anders als vielfach erwartet, ist Kutschma daher auch von einem Urlaub in Tschechien nach Kiew zurückgekehrt und leistete der Vorladung durch die Staatsanwaltschaft Folge.

Doch während die Inhalte der Einvernahme nach wie vor im Dunklen bleiben, wird in Kiew immer lauter Kritik an den Aufklärungsbemühungen laut. Mit Swiatoslaw Piskun habe Juschtschenko den absolut falschen Mann für den Job des Generalstaatsanwalts gewählt, sagt zum Beispiel Mikola Melnitschenko, jener ehemalige Kutschma-Leibwächter, der den Gongadse-Fall aufdeckte. "Juschtschenko wird von der Generalsstaatsanwaltschaft hinters Licht geführt", urteilt Melnitschenko, gibt aber die Schuld dafür Juschtschenko selbst. Denn Juschtschenko habe Leute in ihren Ämtern belassen, die Kutschma schützen - neben Piskun auch den Parlamentspräsident Wladimir Litwin.

Einige vermuten einen Deal mit Kutschma

Vielfach kursiert auch die Meinung, dass Juschtschenkos bislang eher weiche Politik gegenüber Kutschma Folge eines informellen Agreements sei: Kutschma verzichtete im Herbst auf eine gewaltsame Niederschlagung der orangen Revolution, habe dafür aber Straffreiheit zugesichert bekommen. Ob das Gerücht stimmt, vermag heute niemand zu sagen. Tatsache ist allerdings, dass die Chancen auf eine Aufklärung der politischen Morde in der Ukraine inzwischen alles andere als gut stehen.

"Ich bin Opfer von Intrigen von Präsident Kutschma und seiner Umgebung geworden", schrieb Krawtschenko in einem Abschiedsbrief. Viele Beobachter in Kiew werten das als einen Hinweis, dass der Innenminister von Kutschma-Leuten zum Selbstmord gedrängt wurde. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Schlüsselzeuge gegen den Ex-Präsidenten einen unerwarteten Tod stirbt. 2003 fand man den Chef der auf politische Morde spezialisierten Sondereinheit "Die Falken", Igor Gontscharow, tot in seiner Gefängniszelle auf. Gontscharow wollte gegen den damals noch amtierenden Kutschma aussagen. Offiziell soll er im Gefängnis an Herzversagen gestorben sein, die inoffizielle Version spricht von einem Mord.

Nach dem Tod von Innenminister Krawtschenko gibt es nur noch zwei Personen, die bestätigen könnten, dass Kutschma tatsächlich den Auftrag zum Gongadse-Mord gegeben hat: den per Steckbrief gesuchten General Oleksij Puchatsch, der die Gruppe der Gongadse-Entführer geleitet haben soll, und einen Kiewer Bandenchef, der ebenfalls an der Ermordung beteiligt gewesen sein soll. Inzwischen sind in der Ukraine aber Zweifel laut, ob diese beiden Zeugen die kommenden Wochen und Monate überhaupt überleben werden.