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Justitia in der Zeitlupe

Von Daniel Bischof

© WZ-Illustration: Irma Tulek

Große Korruptions- und Wirtschaftsstrafverfahren ziehen sich in Österreich ergebnislos über Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte. Deutschland kämpft mit ähnlichen Problemen. Eine Spurensuche.


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Sie sind das Sorgenkind der österreichischen Strafjustiz: Große Wirtschafts- und Korruptionsstrafverfahren. Ermittlungen in prominenten Fällen ziehen sich über Jahre, bis ein Urteil in erster Instanz gefällt wird, können Jahrzehnte vergehen. Die Causa Buwog rund um Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser, die sich seit zwölfeinhalb Jahren ohne rechtskräftige Erledigung zieht, ist das auffälligste Beispiel. Doch auch die Verfahren rund um den Eurofighter-Kauf, die Meinl Bank, den Ex-Fußball-Bundesligaklub GAK und die Libro-Pleite haben Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, gedauert.

Der Eindruck eines systemischen Problems wird durch die Ermittlungen, die nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos im Mai 2019 eingeleitet wurden, verstärkt. Zwar gibt es immer wieder neue Vorwürfe. Rechtskräftige Einstellungen oder Anklagen in den prominentesten Fällen sind aber Mangelware. Lediglich in einem Seitenstrang ging es flott voran: Im August 2021 wurde Heinz-Christian Strache wegen Bestechlichkeit nicht rechtskräftig zu fünfzehn Monaten Haft verurteilt.

"Es geht hier um ein Phänomen, das die großen Wirtschafts- und Korruptionsstrafverfahren betrifft", sagt Robert Kert, Vorstand des Instituts für Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsstrafrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien. Die "durchschnittlichen Strafverfahren" seien meist innerhalb weniger Monate erledigt: "Da geht es sehr rasch voran."

Die lange Dauer von Wirtschafts- und Korruptionsstrafverfahren quält aber nicht nur die heimische Justiz. Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass in Deutschland mit ähnlichen Problemen gekämpft wird. "In vielen Fällen wird ein rechtsstaatlich gebotener Zeitrahmen nicht eingehalten. Deutschland wurde auch bereits mehrmals vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dafür gerügt, dass die Verfahren zu lange dauern", sagt die deutsche Rechtsanwältin Camilla Bertheau, die auf Wirtschaftsstrafsachen spezialisiert ist. Im November 2020 habe sie beispielsweise eine Wirtschaftsstrafsache verhandelt, "bei der es um Vorgänge aus den Jahren 2004 bis 2008 ging und die Anklage aus dem Jahr 2012 stammte", schildert Bertheau. "Da kann man nicht sagen, dass das schnell vonstattenging."

Viele Daten, wenig Personal

Warum aber dauern Wirtschafts- und Korruptionsstrafverfahren in Österreich und Deutschland so lange? Eine Herausforderung für die polizeilichen Ermittler und die Staatsanwälte sind die riesigen Datenmengen, mit denen sie in solchen Verfahren konfrontiert sind. "Wenn bei einem Unternehmen die E-Mails von 50 Mitarbeitern aus den vergangenen Jahren sichergestellt werden, sind das nun einmal ungeheure Datenmengen. Manchmal sind dann gerade einmal drei E-Mails davon strafrechtlich relevant", sagt Bertheau. Kert erklärt: "Bei dieser Unmenge an Daten braucht es einfach wahnsinnig viel Zeit, diese durchzusehen und auszuwerten."

Diese Datenmengen treffen auf vielfach personell ausgedünnte Behörden. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) in Österreich klagt seit Jahren über einen Personalmangel, Bewerber für die politisch umkämpfte und medial im Rampenlicht stehende Behörde sind rar. Zudem herrscht in der WKStA eine hohe Fluktuation beim Personal, wie mehrere Vertreter der Justiz vor dem derzeit laufenden ÖVP-U-Ausschuss erklärten.

Bei der Gründung der WKStA sei das Ziel gewesen, sie als eine Art Elitebehörde mit erfahrenen Staatsanwälten aufzubauen, schildert eine österreichische Strafrichterin, die jahrelang als Staatsanwältin arbeitete, gegenüber der "Wiener Zeitung". Diese sollten auch eine wirtschaftliche Expertise aufweisen. Das Ziel habe man bisher aber bei Weitem nicht erreichen können. Eine ausreichende Zahl an erfahrenen Staatsanwälten mit Wirtschaftsexpertise sei in der Behörde nicht vorhanden.

Die Ausstattung der Staatsanwaltschaften sei auch in Deutschland ein Problem, so Bertheau. Allerdings gebe es hier regionale Unterschiede: "In München habe ich über die Jahre immer wieder mit den gleichen Staatsanwälten zu tun gehabt. Dort geht es bei den Verfahren insgesamt auch etwas schneller voran. In Berlin haben wir bei den Staatsanwälten sehr viel Rotation, und die Neueinsteiger benötigen dann oft viel Einarbeitungszeit." Hier sei die Politik gefragt, für ausreichend Personal zu sorgen. Insbesondere auch, weil es stetig zu einer Ausweitung der Straftatbestände komme, "was zu einer zusätzlichen Belastung der Ermittlungsbehörden führt", sagt Bertheau.

Ermittlungen ohne Fokus

Angesichts der personellen Schieflage und potenziell riesigen Datenmengen wären strukturierte Ermittlungen umso wichtiger - von Anfang an. Der deutsche Rechtsanwalt Holger Matt, der ebenfalls auf Wirtschaftsstrafsachen spezialisiert ist, sieht hier aber enormen Aufholbedarf bei den Staatsanwaltschaften: "Sie führen viele Verfahren mit zu wenig Konzentration." Auch Bertheau berichtet, dass Ermittler in einigen Fällen "vor sich hin ermitteln" würden.

Die Anklagebehörden müssten ihren Fokus viel mehr auf den Anfangsverdacht richten, sagt Matt. Dieser Verdacht steht in Österreich und Deutschland am Beginn der Ermittlungen. Er liegt vor, wenn es bestimmte Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine Straftat begangen wurde. Erst bei Vorliegen eines Anfangsverdachts ist ein Ermittlungsverfahren einzuleiten.

Der Vorwurf müsse untersucht und dann entschieden werden, ob er Ermittlungen rechtfertige und wenn ja, in welchem Ausmaß Beweismittel sichergestellt werden müssen, sagt Matt. Stattdessen würden die Staatsanwälte in Wirtschaftsstrafverfahren aber dazu neigen, "auch beim kleinsten Anfangsverdacht erst einmal alles und jeden einzupacken". Diese Vorgehensweise scheine ihm nicht nur ein deutsches Phänomen zu sein, sondern europaweit von Ermittlungsbehörden der Ansatz zu sein, meint Matt, der die EU-Kommission in Fragen des Straf- und Strafprozessrechtes berät. "Man hat den kleinen Anfangsverdacht und hofft auf den Zufallsfund bei den sichergestellten Beweismitteln. Das werden immer die besonders zähen Verfahren", so Matt.

Bei solchen Verfahren bestehe in Deutschland dann auch die Gefahr, dass die weiteren Ermittlungen nicht strukturiert genug verlaufen, meint Bertheau. Das zeige sich etwa bei der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaften. "Die Staatsanwälte müssten den Landeskriminalämtern konkrete Fragestellungen vorgeben. Wenn es dann heißt: ,Sichtet mal die beschlagnahmten Unterlagen‘, wird das einfach uferlos." Da den Landeskriminalämtern in solchen Fällen dann der Rahmen fehle, würden diese schlicht "vor sich hin ermitteln".

"Suche nach Zufallsfunden"

Strafrechtler Kert sieht eine ähnliche Problematik in Österreich. "Das Ziel sollte eigentlich schon sein: Ich habe einen konkreten Verdacht und suche nach Beweismitteln, um diesen Verdacht zu erhärten. Mein Gefühl ist aber, es gibt eher eine Suche nach Zufallsfunden und nicht eine nach bestimmten Beweismitteln. Es wird der Laptop oder das Handy des Beschuldigten sichergestellt und dann gehofft, dass man dort einen weiteren Verdacht findet." Daher sei es auch kein Wunder, dass der Ermittlungsakt in solchen Fällen ständig wachse.

© WZ-Illustration: Irma Tulek

"Es wäre erforderlich, sich auf den Anfangsverdacht zu konzentrieren, auf das Delikt, das nachgewiesen werden soll, und auf die Tatbestandsmerkmale dieses Delikts", sagt Kert. Stattdessen würden in vielen Anklagen aber "umfangreiche Geschichten erzählt, ohne Fokus auf das Delikt". Das mache auch das Hauptverfahren wieder "kompliziert, weil der Richter quasi das Ermittlungsverfahren weiterführen muss, was für das Gericht sehr schwierig und eigentlich nicht der Sinn und Zweck der Unterteilung in Ermittlungs- und Hauptverfahren ist", kritisiert Kert.

Diesen Eindruck und diese Kritik bestätigt die österreichische Strafrichterin und Ex-Staatsanwältin, die von dieser Zeitung befragt wurde. Es mangle bei den Ermittlungen vielfach an der staatsanwaltschaftlichen Handarbeit, sagt sie. Ein stärkerer Fokus auf das anzuklagende Delikt sei notwendig.

Eine klarere Schwerpunktsetzung mahnen Experten auch bei der Gewichtung der Delikte ein. "Unsere Staatsanwälte neigen dazu, jedes Detail, jedes kleinste Nebenfaktum aufzuklären, statt sich auf die zentralen Vorwürfe zu konzentrieren", sagt der Strafrechtler Klaus Schwaighofer von der Universität Innsbruck. Das sei nicht immer notwendig: Die Strafprozessordnung lasse es ausdrücklich zu, dass die "Staatsanwaltschaft von der Verfolgung einzelner Fakten, die sich auf die Strafzumessung nicht auswirken würden, absehen kann". Von dieser Bestimmung werde in Österreich aber zu wenig Gebrauch gemacht, so Schwaighofer.

Kert nennt ein Beispiel: "Wenn ich bei einem Verfahren den Vorwurf der schweren Untreue habe, beträgt der mögliche Strafrahmen bis zu zehn Jahre Haft. Ein kleiner Betrug daneben macht da keinen entscheidenden Unterschied für die Strafe. Da wäre es besser, das Verfahren schnell abzuschließen, als jeden einzelnen Verdacht auszuermitteln." Denn gerade in komplexen Wirtschaftsstrafverfahren, bei denen es sich teils um jahrelang zurückliegende Vorgänge handle, werde es auch nicht gelingen, jeden Aspekt bis ins letzte Detail aufzuklären, so Kert.

Streitpunkt Berichtspflichten

Vertreter der WKStA machen neben der schwierigen Personalsituation auch die Berichtspflichten und die Weisungskette als Verzögerungsfaktoren aus. In den parlamentarischen U-Ausschüssen zur Ibiza-Affäre und ÖVP beklagten sich Staatsanwälte über überbordende Berichtspflichten, die enorme Ressourcen kosten würden. WKStA-Staatsanwalt Michael Schön erklärte in einem Interview im Fachbuch "Litigation PR: Storytelling, Strategie & rechtlicher Rahmen", dass bei der Genehmigung eines berichtspflichtigen Vorhabens "elf hochqualifizierte Juristen", darunter die vorgesetzten Oberstaatsanwälte und Beamte im Ministerium, beteiligt seien. "Ich persönliche halte das für einen überbordenden Umfang, und die Entscheidungen werden dadurch nicht besser", kritisierte er.

Weisungen und Berichtspflichten würden "sicherlich Zeit kosten" und könnten zu kleineren Verzögerungen führen, meint Kert. "Sie sorgen aber wohl nicht dafür, dass Ermittlungsverfahren jahrelang dauern." Daher wage er auch zu bezweifeln, dass die Schaffung eines Bundesstaatsanwaltes hier Abhilfe schaffen werde.

In Deutschland seien die Berichtspflichten und Weisungen kein Faktor, der Verfahren verzögere, sagen Bertheau und Matt. "Berichtspflichten der Staatsanwaltschaften gibt es - je nachdem, wie groß der Fall ist und wer involviert ist. Dass diese aber alles lahmlegen und zur Verlängerung des Verfahrens führen würden, ist mir nicht bekannt", erklärt Bertheau.

Rechtshilfe und Gutachten

Zu einer langen Verzögerung der Verfahren beitragen können laut den Experten aber international verästelte Verfahren, in denen Rechtshilfeersuchen an andere Staaten gestellt werden müssen. "Wenn die Strafverfolgungsbehörden auf Rechtshilfe angewiesen sind, womöglich mit Staaten, mit denen es kaum oder gar nicht funktioniert, dann dauern die Verfahren mitunter ewig", sagt Schwaighofer. Im Buwog-Verfahren wurden etwa 40 Rechtshilfeersuchen an ausländische Staaten gestellt.

Bertheau sieht das Instrument der Rechtshilfe problematisch: "Sie dauert oft lange und führen zu vielen Reibungsverlusten. Es wird ein Antrag gestellt, der ans Ministerium geht, der dort wieder ergänzt wird, und wenn sich im Laufe der Ermittlungen neue Fragen ergeben, beginnt das Ganze wieder von Neuem. Das ist schwerfällig und unflexibel." Es sei hier aber aufgrund der zunehmenden Europäisierung vieles im Fluss.

Als Hemmnis können sich gerade auch in Wirtschaftsstrafverfahren Sachverständigengutachten erweisen: "Wenn Gutachten von Wirtschaftsprüfern eingeholt werden müssen, was regelmäßig der Fall ist, dann hängt die Verfahrensdauer entscheidend davon ab, wie rasch diese Gutachter liefern und was sie liefern", sagt Schwaighofer. Da könne man "Glück oder Pech" haben. Wenn es "ganz dumm hergeht, stellt sich eine Befangenheit des Gutachters heraus, und dann beginnt die Sache von Neuem". Im GAK-Verfahren mussten beispielsweise gleich mehrfach die Gutachter gewechselt werden, was zu enormen Verzögerungen führte.

Gute Gutachter zu finden, sei auch in Deutschland schwierig, sagt Rechtsanwältin Bertheau: "Die sind meist sehr gefragt und nicht auf die Schnelle verfügbar."

Der Sonderfall Wirecard

Ein Faktor, der Verfahren beschleunigt, ist hingegen, wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet. Das war beim Fall Wirecard zu sehen. Der ehemalige Chef des insolventen deutschen Zahlungsdienstleisters, der Österreicher Markus Braun, sitzt seit Sommer 2020 in U-Haft. Bereits im März 2022 erhob die Staatsanwaltschaft München in dem hochkomplexen Verfahren mit internationalen Verästelungen Anklage gegen Braun.

"Die Staatsanwaltschaft stand unter erheblichem Druck, Anklage gegen Braun zu erheben, da er sonst aus der U-Haft hätte entlassen werden müssen", sagt Matt. Dieser Druck sei einerseits strafprozessual vom Oberlandesgericht München ausgeübt worden, andererseits auch von den Medien, welche die U-Haft Brauns und die Ermittlungen intensiv begleitet haben.

In solchen Fällen trage eine U-Haft daher schon aus rechtlichen Gründen zu einer Beschleunigung bei, sagt Matt. Als Plädoyer dafür, Beschuldigte in Wirtschaftsstrafverfahren in U-Haft zu nehmen, wolle er das aber selbstverständlich nicht verstanden wissen. "Die U-Haft maximiert den vorläufigen Schaden für den Beschuldigten." Übrigens gelte nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen europäischen Staaten ein perfider Grundsatz in der Praxis: "U-Haft schafft Rechtskraft" - entgegen dem Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung, so Matt.

"Da verliert man den Anschluss"

Die derzeitige Dauer von vielen Wirtschaftsstrafverfahren sei im Allgemeinen untragbar, sagt Rechtsanwalt Matt. Sie sei für alle Beteiligten problematisch, vom Staat über die Geschädigten bis hin zu den Beschuldigten. Besonders für die Karriere des Beschuldigten sei ein langes Verfahren oft katastrophal.

"Ich hatte viele Mandanten, die mit 50 ein Verfahren hatten. Nach fünf bis acht Jahren gab es zwar ein erfolgreiches Verfahrensende für sie. Aber ihre berufliche Perspektive war vorbei, denn in einer solchen Situation verliert man dann den Anschluss und durch mediale Vorverurteilungen auch an Reputation, denn es bleibt immer etwas hängen", sagt der Rechtsanwalt. Zudem gerate die Staatsanwaltschaft mit jedem Tag, den sie für die Ermittlungsarbeit braucht, mehr unter Druck, zu zählbaren Erfolgen zu kommen.

"Es kommt im Strafrecht auf eine zeitnahe Reaktion an", mahnt Kert ein. Daher müsse die Sanktion auch umso milder ausfallen, je länger das Verfahren dauert. Wenn 20 Jahre nach den Vorfällen eine Strafe verhängt werde, müsse dies zu einer signifikant niedrigeren Strafe führen. "Ein Strafverfahren darf die eigentliche Strafe nicht ersetzen", so der Strafrechtler.