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Justitias Augenbinde ist verrutscht

Von Alexander von der Decken

Gastkommentare
Alexander von der Decken ist Allround-Redakteur beim Weser Kurier in Bremen.

Der Wetterexperte und TV-Moderator Jörg Kachelmann ist vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen worden. Im Zweifel für den Angeklagten. Doch was sich nach dem Urteilspruch vor dem Landgericht Wiesbaden abspielte, ist so etwas wie ein juristischer GAU. Der Vorsitzende Richter Michael Seidling geißelte Verteidigung und Medien, einen Parallelprozess am Gericht vorbei geführt zu haben, indem es die Öffentlichkeit mit Informationen fütterte und einen sauberen Prozess somit behinderte. Auf der einen Seite "Bild" und "Bunte" kontra - auf der anderen Seite "Spiegel" und "Zeit" pro Kachelmann. Ein buntes Feuerwerk an Mutmaßungen. Sicher ist nur, das Recht hat Schaden genommen.


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Richter Seidling erklärte, dass das Urteil nicht der Beißwütigkeit des Kachelmannverteidigers Johann Schwenn zu verdanken sei. Eine Erklärung, die nichts anderes bedeutet, als dass die Verteidigung mit ihrem aggressiven Auftreten natürlich ihr Ziel erreicht und das Gericht in Erklärungsnotstand zurückgelassen hat. So hieß es denn von Gerichtsseite, dass man überzeugt sei, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, jedoch keine Befriedigung dadurch verspüre. Und weiter, dass man den Angeklagten und die Nebenklägerin mit dem Gefühl entlasse, den jeweiligen Interessen nicht ausreichend gerecht geworden zu sein. Äußerungen, die zeigen, dass das Verfahren zwischen Gericht und Medien geführt wurde und nicht vor Gericht.

Das Urteil ist deshalb so bedeutsam, weil es zeigt, dass die Augenbinde von Justitia verrutscht ist und sie eben doch auf einem Auge zu sehen gezwungen ist. Exemplarisch ist hierzu der Fall Marianne Bachmeier aus dem Jahr 1981. Sie hatte den Mörder ihrer siebenjährigen Tochter in Lübeck vor Gericht erschossen. Die Medien überschlugen sich, das ganze Land diskutierte den Fall kontrovers. Dennoch gab es keine Grenzverschiebung hinein in das juristische Verfahren. Die Fakten waren klar, trotz überbordender Emotionen hielt das Gericht die Fäden in der Hand, die öffentliche Meinung blieb vor dem Gerichtssaal.

Anders im Fall Kachelmann. Bereits im Vorfeld debattierten Experten auf allen Kanälen, leuchteten die dunklen Seelenkatakomben der Beteiligten aus. Mutmaßungen über eine angemessene Strafzumessung machten die Runde. Alice Schwarzer, Journalistin und Chefredakteurin der Zeitschrift "Emma" malte das Schüttelfrostpanorama eines Freispruchs an die Wand. Der Richterspruch verkam da gleichsam zu einer unbedeutenden Fußnote.

Im Zeitalter der TV-Gerichtsshows, in denen skurrile Fälle für die Öffentlichkeit inszeniert werden, die nichts, aber auch wirklich gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, sollten die Medien sich schnellstens wieder auf das besinnen, was ihre ureigenste Aufgabe ist: zu berichten, zu kommentieren, zu glossieren, aber nicht durchs Schlüsselloch, sondern in auf Fakten beruhender Sachlichkeit. Das mag nicht immer die Auflage steigern, dient aber dem Schutz der Persönlichkeit und ermöglicht eine Rückkehr in den Alltag, ohne bleibende Schäden durch das Sandstrahlgebläse der öffentlichen Hysterie. Die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat davor gewarnt, dass die Unschuldsvermutung in Gefahr ist, wenn Medien ihr Urteil fällen, lange bevor das Urteil gesprochen ist. Recht hat sie. Der Fall des ehemaligen IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn steht in New York zur Verhandlung an. Auch amerikanische Journalisten diskutieren mittlerweile kontrovers die Medienschlachten, die ausufernd in der US-Öffentlichkeit außer Reichweite der Gerichtsbarkeit gefochten werden. Der 2005 eindeutig vom Vorwurf des Sexualverbrechens freigesprochene deutsche Fernsehmoderator Andreas Türck hat erfahren müssen, wie solch eine Zäsur in der Karriere aussieht.

Alexander von der Decken ist Redakteur beim "Weser Kurier" in Bremen.