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Justiz zwischen Neustart und Kriegsverbrechern

Von Stephanie Dirnbacher

Wirtschaft
Christoph Lukits im Interview. Foto: Robert Strasser

Justizexperte über seinen Einsatz in Pristina. | Veto gegen diskriminierendes Recht. | "Wiener Zeitung":Was bewegt einen österreichischen Richter, im Kosovo beim Aufbau einer funktionierenden Justiz mitzuarbeiten?


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Christoph Lukits: Es ist der Reiz, sich andere Systeme anzuschauen. Und es ist auch der Reiz, wenn man etwas entwickeln kann. Das ist anders als bei uns, wo man eigentlich nur in kleineren Bereichen etwas ändern kann, während man dort von Grund auf neue Strukturen aufbauen kann.

Gibt es überhaupt eine funktionierende Justiz im Kosovo?

Es gibt sogar zwei Justizsysteme: die rein lokale Justiz, die von den kosovarischen Gerichten betrieben wird, und die Justiz der UNO-Verwaltung, die mit internationalen Richtern schwerere Fälle, vor allem im Strafrecht, abdeckt - zum Beispiel Kriegsverbrechen oder organisierte Kriminalität.

Sind die Bereiche für die UN-Richter klar abgesteckt?

Das sind besondere Fälle, bei denen man noch nicht auf kosovarische Richter zurückgreifen kann. Da geht es nicht nur darum, dass diese von der Ausbildung und der Erfahrung her diese Fälle noch nicht erledigen können.

Es geht auch darum, dass sie gefährdet sind, wenn sie sich mit Korruptionsfällen beschäftigen oder gegen einen potenziellen Kriegsverbrecher verhandeln müssen. Die Sozialstruktur ist sehr komplex und gleichzeitig so, dass jeder jeden kennt. Wenn man in eine Situation kommt, dass man einen verschiedentlich auch als Kriegshelden betrachteten Kriegsverbrecher verurteilen muss, dann wird das Leben im Kosovo für den betroffenen kosovarischen Richter möglicherweise sehr schwierig.

Wie funktioniert die Justiz bei den lokalen Behörden?

Es funktioniert nicht gut. Sie haben die typischen Probleme von Justizsystemen, die am Anfang stehen: kein Personal, keine Infrastruktur, geringe Ausbildung - das fängt schon bei der Universität an.

Also gibt es nur strukturelle Probleme? Wie sieht es beim materiellen Recht aus?

Primär sind es strukturelle und organisatorische Probleme. Weitgehend fehlt auch noch ein kodifiziertes anwendbares Recht. Man muss jugoslawisches Recht anwendbar halten, weil man nicht alles aus dem Hut zaubern kann - ein Handelsgesetzbuch, eine Zivilprozessordnung, ein Bürgerliches Gesetzbuch. Da greift man immer noch auf das alte Recht zurück unter der Voraussetzung, dass es nicht diskriminierend ist.

Sie meinen aus Gründen der ethnischen Zugehörigkeit diskriminierend?

Ja. Es hat in der Milosevic-Ära Bestimmungen gegeben, die darauf ausgerichtet waren, die albanische Bevölkerungsgruppe zu diskriminieren und diese Politik auch auf rechtlicher Ebene zu unterstützen. Das schließt man aus.

Kommt diese Anti-Diskriminierunsformel von der UNO?

Das ist eine der grundlegenden Rechtsnormen, die die UNO relativ schnell mit ihren Verordnungen in Kraft gesetzt hat.

Bleiben die UN-Verordnungen bestehen, wenn es eine Statusregelung für den Kosovo gibt?

Man arbeitet jetzt am Rechtsübergang. Man schaut, was weiter gelten soll und was wir nicht mehr brauchen.

Was waren Ihre Aufgaben im Kosovo?

Wir waren in rein planender Form im Kosovo. Wenn der Status geregelt ist, hat die EU vor, eine eigene Mission im Bereich Justiz und Polizei einzurichten. Das heißt, dort Richter, Polizisten und Strafvollzugspersonal hinzuschicken. Das wird die größte, wichtigste, teuerste und gleichzeitig auch mit unterschiedlichsten Aufgaben befasste Mission sein, die die EU jemals gehabt hat. Und um das vorzubereiten, hat man letztes Jahr begonnen, die ersten Planungsteams in den Kosovo zu schicken.

Die EU-Richter üben noch keine judizierende Funktion aus?

Das wird es erst geben, wenn der Status gelöst ist.

Wird das von den örtlichen Behörden angenommen?

Ja, weil es eine ganz andere Funktion hat als die UNO-Verwaltung. Die UNO hat Kompetenzen, die man zwar sukzessive abgibt. Aber die Letztentscheidung trifft immer noch der Vertreter des UNO-Generalsekretärs. Die EU wird eine andere Rolle einnehmen - eine, die sich zurückzieht auf Unterstützung, auf Aufsicht, Überwachung der Einhaltung der Statusregelung, die aber nicht mehr die umfassende Kompetenz hat, alles zu entscheiden. Es ist mehr eine Überwachungsfunktion mit einem Vetorecht gegen problematische Aktivitäten. Aber das ist nur beschränkt auf Verletzungen des Statusübereinkommens oder bei Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit.

Worin wird die unterstützende Funktion bestehen?

Im Justizbereich ist es im Wesentlichen eine zweifache Aufgabe: Das eine ist die Beratung auf der Basis der eigenen Erfahrung und auf der Grundlage der kosovarischen Rechtslage. Das ist auch Beratung im Sinne von Ausbildung und Hilfestellung bei der Erfüllung der eigenen Aufgaben durch das kosovarische Personal. Die zweite Aufgabe ist, dass die EU-Richter tatsächlich selber auch judizieren.

Wird das nicht schwierig, weil die EU-Richter aus unterschiedlichen Staaten mit unterschiedlichen Rechtsordnungen kommen?

Das ist eine reale Gefahr. Das hängt davon ab, wie sehr jemand von seiner eigenen Ausbildung abstrahieren kann und sich auf ein neues System einstellen kann. Da wird sehr viel daran liegen, dass man gute Leute findet, die sich auf die völlig andere Situation einstellen können.