Kabul - Raella Kola war die Erste: Auf dem Fahrrad-Gepäckträger ihres Mannes ließ sie sich zum Bazar ins Zentrum bringen, um dort nach Arbeit zu suchen. Ihre Burka hatte sie gegen ein grünes Kopftuch eingetauscht. Nie wieder, so sagt die 25-Jährige, dürften Frauen aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Raella war Verkäuferin, bevor die Taliban kamen und sie - wie mehr als 60 Prozent der Bevölkerung - ins Haus verbannten.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 23 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Frauen waren die Hauptopfer der Religionsschüler, und eigentlich müsste Kabul seit der Eroberung durch die Nordallianz voll sein mit Symbolik für das Ende der weiblichen Knechtschaft. Stattdessen sind wieder nur ausgelassen feiernde Männer zu sehen, die ihre Turbane in die Gosse werfen und sich die Bärte abschneiden lassen. Die jahrelange Unterdrückung lässt sich nicht so schnell abschütteln.
Demonstrativ lüftet Raella ihr Kopftuch, streicht sich über ihr volles Haar und verkündet optimistisch: "Alles ändert sich jetzt. Wir dürfen nur nicht wieder in die alten Fehler zurückfallen." Schnell bindet sie sich den Schleier wieder um. Die junge Frau ist im Stadtbild eine Ausnahme. Zu lang war die Verbannung, zu kurz ist der Sieg der Nordallianz und zu ungewiss die Zukunft, um alle Vorsicht fallen zu lassen. Frauen machen sich auch am zweiten Tag nach dem Fall der Hauptstadt in den Straßen rar, und die wenigen, die sich aus dem Haus trauen, bleiben hinter ihrem Ganzkörperschleier verborgen.
"Wir sind wieder frei. Ohne die Taliban können wir auf ein besseres Leben hoffen. Aber niemand kann von uns erwarten, dass wir nach all den grausamen Jahren die Burka einfach abwerfen, als wäre nichts gewesen", sagte eine der halbwegs Mutigen. Die 34-jährige Geburtshelferin Nadschiba Asim will ihre Burka so lange weitertragen, bis sie ganz sicher sein kann, dass die Taliban und ihr Steinzeit-Islam für immer vertrieben sind: "Noch ist die Lage nicht völlig unter Kontrolle", mahnt sie zur Vorsicht.
Es waren zwei Ansagerinnen, die im oppositionellen "Radio Afghanistan" die Botschaft von der Befreiung Kabuls und seiner weiblichen Bewohner verkündeten: "Die Mudschaheddin teilen allen Schwestern und Frauen Afghanistans mit, dass sie von nun an wieder das Recht auf Ausbildung und Arbeit haben - in Übereinstimmung mit der islamischen Lehre und unserer Tradition." Farida Hila strahlt einen Tag danach immer noch. Fünf Jahre lang durfte sie ihren Beruf als Nachrichtensprecherin nicht ausüben: "Dieses Land zahlte für meine Ausbildung, doch ich hatte nur anderthalb Jahre Zeit, es zurückzahlen - dann sperrten mich die Taliban in meine vier Wände. Was für eine Vergeudung."
"Ich dachte, ich würde niemals ins Radio zurückkehren", freut sich auch ihre Kollegin Dschamila Mudschahed. "Jetzt sitze ich hier hinter meinem Mikrofon und glaube immer noch, ich träume." Sie hofft, dass die Frauen des Landes rasch aus ihrem Schatten treten werden. Ein erster wichtiger Schritt dazu dürfte der Friedensgipfel der afghanischen Frauen im Dezember in Brüssel sein, auf dem die Teilnehmerinnen über ihre Beteiligung am Wiederaufbau ihrer Heimat beraten wollen.