Vom Vienna Coffee Festival bis zum Kaffeesiederball wird dieser Tage der Essenz einer magischen Bohne gehuldigt: Eine Genuss- und Kulturgeschichte.
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Morgens um halb zehn auf Facebook. Man fühlt sich umgeben von den in die Jahre gekommenen Kindern des Bahnhof Zoo. Ein süchtiger Haufen bekennt sich Tag für Tag mit eindeutigen Postings zu einer massiven Abhängigkeit. Es ist fast so, als wäre ein Wort des französischen Philosophen Michel de Montaigne über Nacht Fleisch geworden: "Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will." Dabei geht es der zerzausten Community im sozialen Netzwerk aber nicht um intravenöse Injektionen von Diacetylmorphin (Heroin), sondern um legales Purinalkaloid aus der Gruppe der Xanthine (Koffein).
Koffein-Junkies
Neben den herzallerliebsten Abbildungen von Katzen sind die Eigenschaften von Doping aus dem Frühstückshäferl ein Thema ohne Widerspruch. Und ich rede jetzt nicht von Fräulein Gretas Gespür für Kaffee und den langen Transportwegen, die der Rohstoff für das psychotrope, koffeinhaltige Getränk aus Brasilien, Vietnam, Kolumbien, Honduras und Indien bis in unsere Espressomaschinen zurücklegen muss.
"Es gibt Tage, da möchte man sich das Kaffeepulver direkt durch die Nase ins Hirn saugen", postet eine Wiener Werbefachfrau. Ein Student aus Salzburg stößt unverblümte Drohungen aus: "Wenn ich nicht sofort Kaffee bekomme, laufe ich Amok!" Und ein Bankangestellter aus Innsbruck bekennt freimütig: "Ich selber brauche keinen Kaffee zum Leben. Aber ich brauche ihn, damit andere überleben."
Mit radikalen "Kaffeenisten" ist also nicht zu spaßen. Das unterstreicht auch eine Studie der Uni Innsbruck, die im britischen Fachmagazin "Appetite" publiziert worden ist. Demnach sind Leute, die ihren Kaffee schwarz und ohne Zucker trinken, mehrheitlich Psychopathen mit narzisstischen Merkmalen, die im Alltag zu Sadismus neigen. Kein Wunder also, dass zart besaitete Gesellinnen und Gesellen solche Kaffee-Junkies, die auf Entzug sind, als reale Bedrohung empfinden. Allerdings muss man hier fairerweise anmerken, dass sich die Beschaffungskriminalität im Gegensatz zum Alltag von Heroin-Abhängigen in Grenzen hält. Wegen eines kleinen Mokkas wurde noch keiner Oma die Handtasche geraubt.
Man sieht also: Kaffee ist ein komplexes Thema. Klar, man könnte es sich auch leicht machen und sagen: Melange, Kleiner Brauner, Espresso, Cappuccino, Einspänner und Fiaker sind österreichische Nationalgetränke und spiegeln vor allem in Wien die Seele der Stadt wider. Ein kleines feines Zitat noch dazu, etwa vom französischen Opportunisten Charles-Maurice de Talleyrand. Er lernte als Delegierter beim Wiener Kongress die Kaffeekultur an der Donau kennen und stellte nach gründlichen Selbstversuchen fest: "Kaffee muss heiß wie die Hölle, schwarz wie der Teufel, rein wie ein Engel und süß wie die Liebe sein."
Komplexe Themen verlangen freilich nach kompetenten Wortmeldungen. Deshalb holen wir jetzt ein paar "Obergescheite" vor den Vorhang, deren alltägliche Aufgabe es ist, im Kaffeesud zu lesen. Da ist zunächst einmal Professor Chahan Yeretzian. Er lehrt und forscht am Kompetenzzentrum für Kaffee an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Der Syrer kam als Kind mit seinen Eltern in die Schweiz und gilt seit mehr als zehn Jahren in einer Konsumentenwelt, in der Kaffeegenuss zu einer Wissenschaft geworden ist, als erste Adresse für Kaffeeforschung.
Mehr als ein Getränk
"Weltweit leben 100 Millionen Menschen vom Anbau, von der Produktion und dem Verkauf von Kaffee. Das ist mehr als ein Getränk, es ist eine Welt in sich: Alle Probleme dieser Welt kommen in der Wertschöpfungskette zum Ausdruck", sagt Yeretzian, der herausgefunden hat, dass "jeder Kaffeetrinker anders ist. Wie der Kaffee schmeckt, hängt etwa von der Form der Mundhöhle ab oder davon, wo der Schluck zuerst die Zunge berührt."
In einem Interview mit der Schweizer Kirchenzeitung "Reformiert" bekennt sich der Kaffee-Professor zu seinem täglichen Konsum von sechs bis zehn Tassen pro Tag und erklärt: "Eine Harvard-Studie zeigt einen Zusammenhang zwischen Kaffeekonsum und Langlebigkeit. Menschen, die vier bis fünf Tassen Kaffee pro Tag trinken, leben im Schnitt vier bis fünf Jahre länger. Kaffee scheint also ein Heilmittel zu sein."
Andreas Rebmann ist da ganz anderer Ansicht: "Eine Sucht hat immer großen Einfluss auf das Energiesystem des Menschen. Sie raubt ihm Zeit und Geld und leitet die Energien in eine falsche Richtung. Generell könnte man eine Sucht als eine Suche nach Gott an der falschen Stelle bezeichnen", sagt der ernsthaft nach dem Sinn des Lebens suchende deutsche Esoteriker, der sich bisher u.a. der feinstofflichen Bedeutung von Gallensteinen gewidmet hat und nun auf seiner Homepage die Kaffeekonsumenten davor warnt, ihre Körper bis aufs Letzte auszumergeln.
Rebmann glaubt, dass der Kaffeekonsum vieler Menschen seine Ursache in fehlender Motivation hat: "Wenn der Mensch beruflich nur wegen des Geldes Dinge tut, für die er eigentlich gar nicht genug Motivation hat (Geld verdienen ist für die Seele keine ausreichende Motivation)", dann versuche er, diesen Mangel mit Kaffee zu beheben. Wer jedoch seiner inneren Vision folge, werde nie Kaffee oder andere Muntermacher brauchen, weil seine Motivation tausend Mal stärker sei als jeder Kaffee. Wie bei der Zigarettensucht seien auch beim Kaffee die historischen Grundlagen in der Kolonialzeit gelegt worden, "als immer größere Tabak- und Kaffee-Plantagen entstanden sind. So ging die Ausbeutung dieser Kolonialstaaten Hand in Hand mit steigenden Suchtabhängigkeiten in Europa."
Kult & Lifestyle
Danke, Herr Rebmann. Auftritt von Frau Prof. Karen Nieber. Sie forscht am Institut für Pharmazie der Uni Leipzig und hat in ihrem lesenswerten Buch "Schwarz und stark - wie Kaffee die Gesundheit fördert" eingeräumt, dass Kaffee-Trinker mit hoher Tages-Dosis durchaus Entzugserscheinungen haben können, vor allem Kopfschmerzen, wenn die gewohnte Menge einmal nicht zur Verfügung steht. In hohen Dosen kann Kaffee sehr wohl negative Folgen auf den Körper haben. Völlegefühl, Sodbrennen, Herz- und Magenbeschwerden sind ebenso dokumentiert wie Schlaflosigkeit, Angstzustände und Panikattacken, aber auch Müdigkeit und Reizbarkeit.
"Koffein ist in Kaffee, Tee, Cola, Mate, Guarana, Energy Drinks und Schokolade enthalten", schreibt Nieber auf dem Online-Portal pharmazeutische-zeitung.de: "Daher wurde diskutiert, ob es ein Suchtmittel ist oder nicht. Eine US-Expertengruppe zeigte, dass das Abhängigkeitspotential so gering ist, dass es bei der Einnahme der in Lebensmitteln üblichen Dosen keine Rolle spielt. Die Ergebnisse sprechen klar gegen die Annahme, Koffein würde zur Abhängigkeit führen."
Vom Schweizer Arzt Paracelsus stammt bekanntlich der Spruch: "Dosis sola venenum facit!" Zu Deutsch: "Die Menge macht das Gift." Und das gilt eben auch für Kaffee. Anders gesagt: Zu wenig und zu viel ist aller Narren Ziel.
Der Trend zum Kaffee als Lifestyle- und Gourmetprodukt ist ungebrochen. Seit Jahrzehnten ist Kaffee eine sinnliche Leidenschaft der Österreicher. Der Pro-Kopf-Verbrauch liegt mit 7,4 Kilo deutlich über dem europäischen Durchschnittskonsum von 2,8 Kilo. Jeder Österreicher trinkt 145 Liter Kaffee im Jahr.
Fairtrade-Kaffee
Seit kurzem gilt der österreichische Kaffeetrinker als qualitätsbewusst und möchte über Herkunft, Anbau, Ernte und Verarbeitung informiert werden. Zahlreiche Siegel und Zertifizierungen (Fairtrade oder Rainforest Alliance) geben den Konsumenten Auskunft über Anbau, Produktion und Handel. So wuchs beispielsweise die Verkaufsmenge an Fairtrade-Kaffee weltweit von rund 77.429 Tonnen im Jahr 2012 auf 214.106 Tonnen (Stand 2017) - ein Zuwachs von 177 Prozent innerhalb von fünf Jahren.
"Wir beobachten in der Branche eine große Dynamik und spannende Entwicklungen - sowohl was den Kaffeegenuss in den eigenen vier Wänden betrifft als auch in der Außer-Haus-Gas-tronomie. Das Bewusstsein für das Genussprodukt ‚Kaffee‘ steigt kontinuierlich. Jeder Konsument und jeder Gast definiert die perfekte Tasse Kaffee ein bisschen anders", erklärt Harald J. Mayer, der Präsident des Österreichischen Kaffeeverbandes.
Was sich ebenfalls beobachten lässt: Der Anteil der Kapselmaschinen und Vollautomaten wächst kontinuierlich. In rund 42 Prozent aller österreichischen Haushalte kommt der Kaffee aus der Kapselmaschine, ein Drittel setzt auf Vollautomaten. Die Kapseln und Pads haben zum Teil abenteuerliche Preise: Bis zu 86 Euro pro Kilo kostet das in kleinste Dosen verpackte Kaffeepulver, wie ein Arbeiterkammer-Preistest ergab. Dabei wurden insgesamt 115 verschiedene Produkte von zehn Anbietern unter die Lupe genommen. Die Bandbreite für ein Kilo Kaffee liegt zwischen 11,88 und 86 Euro. "Es zahlt sich aus, bei Kapseln, Discs oder Pads die Preise zu vergleichen", sagt AK-Preisdetektivin Daniela Premitzer.
Im Gegenzug gibt es bei uns immer weniger Filterkaffeemaschinen - besaßen 2003 noch 81 Prozent so ein Gerät, so sind es im Vorjahr nur noch 31 Prozent gewesen. Erfunden hat das System die Dresdnerin Melitta Bentz. Sie experimentierte im Jahr 1908 mit dem Löschpapier aus den Schulheften ihrer Söhne, um den lästigen Kaffeesatz im Kaffee zu vermeiden.
"Ob der Kaffee schmeckt, hängt von einer Vielzahl an Faktoren ab. Nicht zuletzt, weil Kaffee wie Wein ein Naturprodukt ist und damit Sorte, Herkunft und Röstung eine große Bedeutung haben", sagt der Präsident des Kaffeeverbandes und verweist darauf, dass jede Bohne rund 800 Aromen enthält, während man beim Wein "nur" etwa 400 Aromen kennt. Wer es lieber fruchtig und säurebetont mag, wird sich über helle Röstungen freuen. Die kurze Röstdauer führt zu einem ausgeprägten Säureanteil und deutlichen Fruchtaromen. Bei den dunklen Röstungen dominieren schokoladige bis rauchige Aromen und ein kräftiger Geschmack. Hier tritt die Bitternote deutlich hervor, die einen gelungenen Espresso ausmacht.
Kaffeehaus-Legende
Dass die Lust der Österreicher auf Kaffee ungebrochen ist, zeigen auch die Importzahlen. Im vergangenen Jahr wurden 1,5 Millionen 60-kg-Säcke importiert, wobei 73 Prozent (entspricht 1,1 Millionen 60-kg-Säcken) tatsächlich hierzulande konsumiert und die Differenz wieder exportiert wurde (Quelle: ico.org).
"In Wien gibt es so etwas wie eine ‚kulinarische Dreifaltigkeit‘: Kaffeehaus, Beisl und Heuriger", sagt der ehemalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl. "Sie sind unverzichtbarer Bestandteil unserer international berühmten Lebensqualität (...) Glücklich ist eine Stadt, die eine soziale Einrichtung vorzuweisen hat, wie es sie sonst nirgends auf der Welt gibt: nämlich das Wiener Kaffeehaus."
Die Legende berichtet, dass Georg Franz Kolschitzky nach der zweiten Türkenbelagerung im Jahr 1683 ein paar Säcke Kaffee gefunden und Wiens erstes Kaffeehaus eröffnet hat. Diese Geschichte ist bis heute in zahllosen Publikationen zu finden. Wahr ist sie trotzdem nicht. Eine zwielichtige Figur, der armenische Spion Deodato, und nicht Kolschitzky, erhielt vom Hof die Erlaubnis, ein Café zu eröffnen. 1714 gab es bereits 31 Kaffeehäuser, 1879 waren es 605 und 1918 etwas mehr als 800.
"Nach dem Zweiten Weltkrieg war von der heilen Kaffeehauswelt nur noch wenig übrig", verrät Herbert Hacker im Magazin "Falstaff". "Der Grund dafür: Ein Großteil der Gebildeten, Literaten, Ärzte und Anwälte jüdischer Abstammung, die einen wesentlichen Teil der Intelligenz ausmachten, war nach dem Dritten Reich nicht mehr da."
Die Faszination dieser Kultstätten beschrieb der Dichter Stefan Zweig in seinem Buch "Die Welt von Gestern": "Um dies zu verstehen, muss man wissen, dass das Wiener Kaffeehaus eine Institution besonderer Art darstellt, die mit keiner ähnlichen in der Welt zu vergleichen ist. Es ist eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann."
An diese Tradition erinnert seit Jahren der Kaffeesiederball. Heuer verwandelt sich die Hofburg am 14. Februar 2020 in das größte und schönste Kaffeehaus der Welt. Die Kaffeesieder und ihre Gäste feiern das Unesco Kulturerbe, die Wiener Kaffeehauskultur. Der vielleicht charmanteste Ball des Jahres ist elegant und gemütlich zugleich. Das heurige Motto lautet: "Kaffee - Symphonie der Liebe!"
Wer Lust auf eine Entdeckungsreise durch die Welt des Kaffees bekommen hat, kann sich an diesem Wochenende beim "Vienna Coffee Festival" in der Ottakringer Brauerei sinnliche Updates holen. Die besten Röster und Rohkaffeehändler sind mit mehr als 100 der feinsten Spezialitäten-Kaffees aus allen Anbau-Regionen der Welt vertreten. Bei Verkostungen und Workshops geben Profis ihr Wissen an das Publikum weiter.
Die Barista-Elite
Beim "World’s coolest coffee event" können die Gäste von den Besten lernen: Der norwegische Barista-Weltmeister Tim Wendelboe, Röster und Kaffeefarmer in Kolumbien, ist ebenso live dabei wie der dreimalige italienische Barista-Meister Francesco Sanapo, Initiator der internationalen Kaffee-Talentshow "Barista & Farmer", die sich auf die Förderung der Kultur des Spezialitäten-Kaffees konzentriert - vom Samen über die Ernte bis zur Tasse. Und die österreichische Barista-Elite duelliert sich auf zwei Wettkampfbühnen um fünf Staatsmeistertitel: Nur die Sieger fahren zur "SCA WM 2020" nach Warschau und Melbourne.
Kinder stellen ihre Kreativität beim Malen mit Kaffee unter Beweis. Abwechslungsreiche Musik und internationale Kulinarik von Thai Kitchen bis Omas Mehlspeisküche bieten den Rahmen für diese Veranstaltung (siehe: www.viennacoffeefestival.cc), die mit Sicherheit auch dem irischen Schriftsteller Jonathan Swift gefallen hätte, von dem der kluge Satz stammt: "Die beste Methode, das Leben angenehm zu verbringen, ist, guten Kaffee zu trinken. Und wenn man keinen haben kann, so soll man versuchen, so heiter und gelassen zu sein, als hätte man welchen." Bei Swift wär’s wahrscheinlich Irish Coffee - mit "Writer’s Tears"-Whiskey, Zucker und Schlagobers.
Georg Biron, geboren 1958, lebt als Schriftsteller, Reporter, Regisseur und Schauspieler in Wien.