Gespräch mit dem Tiroler Ötzi-Experten Walter Leitner. | Erstaunliche Befunde, Fragen und Spekulationen nach über 5000 Jahren.
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Er hieß sicher weder Ötzi noch Abel und hatte keinen Bruder namens Kain. Aber sein gewaltsamer Tod in grauer Vorzeit erinnert an das erste Buch der Bibel. Der Mann, dessen mumifizierter Körper am 19. September 1991 im Eis an der österreichisch-italienischen Grenze entdeckt wurde, interessiert seither nicht nur die Fachwelt, sondern lockt auch viele Besucher ins Südtiroler Archäologiemuseum nach Bozen.
Mit dem Namen Ötzi, durch den vor 20 Jahren der Journalist Karl Wendl die in den Ötztaler Alpen aufgefundene Gletscherleiche seiner Leserschaft vertrauter machen wollte, könne auch die Wissenschaft gut leben, meint der Tiroler Prähistoriker Walter Leitner im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Der Leiter des Instituts für Archäologien (das mehrere einschlägige Abteilungen umfasst) an der Universität Innsbruck hat die Forschung am "Mann im Eis" von Anfang an mitverfolgt. Nach dem Fundort sind auch Bezeichnungen wie Mann vom Tisenjoch, Mann vom Hauslabjoch oder Mann vom Similaun üblich. Leitner gehört dem internationalen Wissenschafterkollektiv zur Erforschung dieser Gletschermumie an und betont: "Der Mann im Eis ist einmalig. Es handelt sich ganz sicher um die älteste Feuchtmumie, die wir kennen, und das in perfekter Konservierung."
Walter Leitner erinnert sich, dass es 1991 einige Tage dauerte, bis der Fund als archäologische Sensation wahrgenommen wurde: "Das war erst der Fall, als die Mumie in Innsbruck in der Gerichtsmedizin mitsamt den Ausrüstungsgegenständen sozusagen am Obduktionstisch gelegen ist. Da sind die Archäologen verständigt worden und konnten natürlich sofort erkennen, dass es sich hier um steinzeitliche Objekte handelt." Heute weiß man aufgrund von Messungen mittels der Radiokarbonmethode, dass Ötzi in der Zeit von 3359 bis 3100 vor Christus ums Leben gekommen ist.
Als klar wurde, was für ein einzigartiger Fund hier gemacht worden war, geriet der zunächst nach Innsbruck transportierte und dort aufbewahrte Ötzi fast zum Streitfall zwischen Österreich und Italien. Der damalige - und an dieser Stelle auch heutige - Verlauf der Grenze weist die Fundstelle gerade noch als Südtiroler Territorium aus. Grenzlinien werden üblicherweise entlang der natürlichen Wasserscheide gezogen. Nur konnte diese im Bereich des Ötzi-Fundortes zum Zeitpunkt der Vermessung nach dem Ersten Weltkrieg mangels starker Vereisung nicht genau verfolgt worden. Deshalb ist Ötzi seit 1998 in Bozen beheimatet und dort ausgestellt.
Rechtsstreit um Entdeckung, prähistorischer Kriminalfall
Als Entdecker Ötzis setzte sich nach jahrelangem Rechtsstreit das deutsche Bergsteigerehepaar Helmut und Erika Simon durch, den letztlich erstrittenen Finderlohn von 175.000 Euro erhielt aber erst im August 2010 Erika Simon als Witwe. Helmut Simon war 2004 in den Bergen abgestürzt, was jeglicher Vernunft abholde Personen vom "Fluch des Ötzi" (in Anlehnung an den angeblich mit ägyptischen Pharaonengräbern verbundenen "Fluch der Mumie") sprechen ließ.
Unter den Mumien und den bisherigen Funden menschlicher Überreste in den Alpen hat Ötzi, so Leitner, sicher eine Sonderstellung: "Mit ihm sind erstmals systematische wissenschaftliche Untersuchungen an einer prähistorischen Eismumie gemacht worden." Eine wichtige Erkenntnis habe man dabei erst nach geraumer Zeit gewonnen: "Es haben zehn Jahre vergehen müssen, bis man die Pfeilspitze entdeckt hat, die in seinem Rücken steckte, die durch das linke Schulterblatt gedrungen ist und knapp vor der Lunge stecken geblieben ist, auf dem Weg dorthin aber große Gefäßverletzungen verursacht hat."
Für Walter Leitner besteht kein Zweifel: "Es handelt sich um Mord, denn der Pfeil ist von hinten abgeschossen worden, man hat den Mann offenbar überrascht." Über die näheren Umstände und das Motiv des Täters könne man nur mutmaßen: "Wir haben es mit einem Toten zu tun, im Hochgebirge auf 3200 Meter Höhe, in dessen Schulter eine Pfeilspitze steckt. Der oder die Täter haben versucht, den Pfeil herauszuziehen, dabei ist die Spitze aufgrund der Widerhaken stecken geblieben. Man hat aber alle Ausrüstungsgegenstände um die Leiche, die zum Teil sehr wertvoll waren, nicht mitgenommen, das heißt, man kann einen Raubmord ausschließen. Man könnte überlegen, inwieweit hier ein Auftragsmord geschehen ist. Die Täter wollen Spuren verwischen, ziehen deshalb den Pfeil heraus, lassen ihn dort oben verbluten, belassen ihm all sein Hab und Gut und täuschen so einen Unfall vor."
Der "Kriminalfall Ötzi" steigerte noch das Interesse der Öffentlichkeit am Mann im Eis. Dass jenes der Forscherwelt von Anfang an groß war und blieb, kann Leitner bestätigen: "Wir haben einen Wissenschafterpool von circa 150 bis 180 Personen, die aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen stammen: Archäobotanik, Archäozoologie, Anatomie, Gerichtsmedizin, Pathologie, Archäologie, Humangenetik bis hin zur Kriminalistik. Wichtig sind auch die restauratorischen Wissenschaften, geht es doch darum, die aufgefundenen Kleiderreste und Geräte entsprechend gut zu präparieren und zu konservieren. Es gibt da eine ganze Palette, wobei den Schwerpunkt die Naturwissenschaften bilden."
Wissenschaft hat
von Ötzi profitiert
<br style="font-weight: bold;" /> <br style="font-weight: bold;" /> Haben dabei nicht die Wissenschaften von Ötzi profitiert und sich durch ihn auch weiterentwickelt? Leitner bejaht diese Frage: "Wir haben immer wieder von Institutionen das Angebot bekommen, dass sie diese Untersuchungen umsonst machen würden, und das war natürlich ideal, denn Forschung kostet viel Geld. In diesem Fall haben alle zusammengearbeitet und alle davon profitiert. Es ist wirklich ein Vorzeigebeispiel einer interdisziplinären Forschungsgemeinschaft, die hier seit 20 Jahren arbeitet und schöne Erfolge erzielt."
Die Forscher haben festgestellt, dass Ötzi etwa 50 Kilogramm wog, 1,60 Meter groß (die gefriergetrocknete Mumie maß etwas weniger) und zum Zeitpunkt des Todes circa 45 Jahre alt war. Er müsse wohlhabend gewesen sein, meint Leitner: "Er hatte für das Hochgebirge geeignete Fellbekleidung, die aufwendig verarbeitet war. Ich gehe nicht davon aus, dass die allgemeine Dorfbevölkerung solche Kleidung trug. Unter den Ausrüstungsgegenständen war besonders das Kupferbeil für diese Zeit rar und sehr wertvoll, ein Arbeitsgerät, das er möglicherweise auch als Waffe benutzt, aber sicher vor allem als Statussymbol mit sich getragen hat. Das machte ihn ganz sicher zu einer ranghohen Persönlichkeit."
Ötzis letzte Stunden dürften aufregend verlaufen sein, darauf weisen einige Verletzungen hin. Als letzte Mahlzeit hat er Steinbockfleisch zu sich genommen. Neueste Forschungsergebnisse zum Mageninhalt und zum Zustand von Ötzis Organen werden von 20. bis 22. Oktober beim zweiten Mumienkongress in Bozen präsentiert.
Wo Ötzi starb, befand sich ein in der Steinzeit genutzter Alpenübergang, von einer Handelsroute könne man aber nicht sprechen, betont Leitner, "dafür war das Gelände zu steil". Es könnten aber in dieser Gegend damals wertvolle Gegenstände wie Feuerstein oder Kupfer getauscht worden sein. Dass Ötzis Leichnam so unversehrt über die Jahrtausende erhalten blieb, sei nur dadurch zu erklären, dass es knapp nach seinem Tod schneite und die Schnee- und Eisdecke in seiner Felswanne nie lange genug auftaute, um Zersetzungsprozesse des Körpers zu ermöglichen.
Zu den vielen für die Forscher noch offenen Fragen zählt jene nach Ötzis Herkunft und möglicher Verwandtschaft mit heutigen Menschen. Leitner nennt Zahnschmelzuntersuchungen - die Aufschluss über seine Ernährung geben - und DNA-Proben: "Wir wissen, wo er sich in seiner Jugend aufgehalten hat, im Eisacktal etwa zwischen Bozen und Brixen, dann wanderte er in seinem zweiten Lebensabschnitt Richtung oberes Etschtal und in den Vinschgau. Für sein DNA-Muster hat man bisher vergeblich Vergleichbares in Südtirol und Umgebung gesucht, es weist eher nach Sardinien. Da gibt es noch viel zu untersuchen. Ich glaube nicht, dass der Fall Ötzi jemals wissenschaftlich abgeschlossen werden kann."