Jahrzehnte war "Das interessante Blatt" Österreichs größte Wochenillustrierte.
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<p>Seit über 130 Jahren stehen die großformatigen Bände im Regal. Hinter den festen Pappdeckeln verbergen sich tausende, ja zehntausende Zeitungsseiten, fein säuberlich nach Tag und Jahr geordnet.<p>
Nehmen wir einen der Folianten zur Hand, sagen wir aus dem Jahr 1908, und blättern hinein in die Zeitung mit dem für heutige Ohren merkwürdigen Titel "Das interessante Blatt". Wir begegnen dem österreichischen Kaiser und seiner Entourage. Wir stoßen auf Berichte von Unglücksfällen und Katastrophen, lesen von spektakulären Raubüberfällen und Morden. Berichtet wird über Festlichkeiten und Sehenswürdigkeiten, über Sportler und ihre Wettkämpfe, über Bühnenstars und Adabeis.
<p>Im hinteren Teil jeder Ausgabe werden auf den Reklameseiten allerlei Wundermittel, Rezepturen und Alltagsprodukte angepriesen: Lederhosen, billige Bettfedern, Haarwuchsmittel, Haarentfernungsmittel, "Gummiprodukte" für den Herrn, Magen- und Hustensäfte, Bücher und Briefmarken, Werkzeuge und Grabsteine, Wäsche und Korsetts, Nervenmittel, Harmonikas , Grammophone und vieles andere mehr. So haben wir uns die Boulevardberichterstattung anno 1908 vorzustellen.<p>
Kulturgeschichte in Bildern
<p>Sollen wir die Zeitung gleich wieder zumachen und die schweren Bände zurück ins Regal stellen? Nein, bloß nicht! Allzulange haben die Historiker naserümpfend die Boulevardpresse und erst recht die fotografische illustrierte Bilderpresse links liegen lassen, wenn es darum ging, die Kulturgeschichte vergangener Tage zu rekonstruieren.<p>Das weit über Österreich hinausreichende Interesse an "Wien um 1900" etwa beschränkte sich häufig auf die Entwicklungen der Hochkultur. Im Blick waren vor allem Musik und Literatur, Kunst und (ehrbarer) Journalismus, Architektur und Philosophie, Theater und Psychoanalyse. Aber lassen sich manche gesellschaftliche Entwicklungen vergangener Jahre, etwa das Verhältnis der Geschlechter oder die Faszinationen der Massen für den Sport, nicht viel besser vom Boulevard weg rekonstruieren?<p>Können nicht auch die Berichte über aufsehenerregende Raubüberfälle, laszive Vergnügungen im Prater oder frühe Automobilrennen am Semmering spannende kulturhistorische Hinweise bieten? Wenn das so ist, dann kommen wir an der Populärberichterstattung des "Interessanten Blattes" nicht vorbei.<p>Wieso? Weil die 1882 gegründete und 1944, mitten im Zweiten Weltkrieg, eingestellte Zeitung die am längsten erscheinende, auflagenstärkste und bei weitem wichtigste Wochenillustrierte der Monarchie und der Ersten Republik war. In ihren Texten und vor allem Bildern bietet dieses Blatt erstaunliches, bisher allzu wenig beachtetes Anschauungsmaterial zur Geschichte und Alltagsgeschichte Österreichs.<p>Als ich vor einigen Jahren in einem Forschungsprojekt die Geschichte des österreichischen Fotojournalismus untersuchte, verbrachte ich viel Zeit in den Lesesälen der Österreichischen Nationalbibliothek. Monatelang beschäftigte ich mich auch mit dem "Interessanten Blatt", das für Generationen von Fotojournalisten das unumstrittene Flaggschiff der österreichischen Bilderpresse darstellte. Im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek sind alle Bände der Wochenillustrierten aufbewahrt. Eine so wichtige Zeitung, möchte man meinen, sollte man auch in zahlreichen anderen Bibliotheken finden. Dem ist allerdings nicht so.<p>Es ist wohl der Geringschätzung der Boulevardpresse insgesamt zu verdanken, dass das "Interessante Blatt" - so wie viele andere illus-trierte Zeitungen auch - sehr oft leichtfertig entsorgt wurde. Daher finden wir es heute in nur sechs öffentlichen Bibliotheken Österreichs, in Deutschland gar nur in zwei. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Auflage des Blattes bereits vor 1900 in die Zehntausende ging.<p>Wer heute in den Seiten des "Interessanten Blattes" und anderer österreichischer Zeitungen blättern will, muss seinen Schreibtisch freilich nicht mehr verlassen. Der digitale Zeitungslesesaal ANNO (AustriaN Newspapers Online: http://anno.onb.ac.at/) der Österreichischen Nationalbibliothek ermöglicht es, bequem und kostenlos von zu Hause aus in historischen Zeitungen und Zeitschriften zu blättern, unter anderem auch im "Interessanten Blatt". Inzwischen sind auf ANNO mehr als 15 Millionen Zeitungseiten online zugänglich.<p>
Aufschwung der Boulevardpresse
<p>In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts befand sich die Zeitungswelt in Wien, aber auch in anderen europäischen und amerikanischen Metropolen im Umbruch. Neben den klassischen Tageszeitungen tauchten nun neuartige, populär aufgemachte Zeitungen auf, die sich an ein breites Massenpublikum wandten. Diese billigen, in hohen Auflagen gedruckten Blätter finanzierten sich großteils über Anzeigen.<p>Trendsetter waren die amerikanischen Massenblätter "New York Herald" oder "New York Tribune", die bereits ab den 1860er Jahren enorme Auflagensteigerungen verzeichneten. Die "New York World", das Tabloidblatt des aus Ungarn stammenden Joseph Pulitzer, brachte es um 1900 auf eine Auflage von 1,5 Millionen. Zum Vergleich: 1870 wurden in den USA täglich 2,6 Millionen Zeitungen verkauft, bis 1900 schnellte der Absatz auf über 15 Millionen hoch.<p>
In den Jahren vor 1900 erreichte dieser Trend auch Österreich. 1893 gründete Jacob Lippowitz mit dem "Neuen Wiener Journal" das erste täglich erscheinende Massenblatt der Monarchie. Es war billig, setzte ganz auf populistische, oft schreierische Lokalberichterstattung und eroberte das Feld mit aggressiven Werbefeldzügen. Anfangs wurde es kostenlos an alle Haushalte verteilt. Bald folgten diesem Konzept weitere Tageszeitungen, etwa im Jahr 1900 die "Kronen-Zeitung".<p>
Sensationelles in Wort und Bild
<p>Auch das 1882 vom Journalisten und Unternehmer Sigmund Auspitzer gegründete "Interessante Blatt" gehörte, im Bereich der Wochenblätter, zu dieser neuen, populären Zeitungsgeneration. Die Zeitung wollte, so schrieb sie im Gründungsjahr 1882, "das Interessante aus Nah und Fern, das Sensationelle in Wort und Bild sammeln und zur Belehrung und Unterhaltung in Familie und Haus zu tragen".<p>Im Unterschied zu den noch weitgehend fotolosen Tagezeitungen setzte sie von Anfang an auf üppige Bebilderung. Anfangs waren es Zeichnungen und Stiche, ab den 1890er Jahren Fotos. "Das interessante Blatt" stand in der Tradition der konservativen Familienblätter aus dem 19. Jahrhundert. Anders als diese setzte es aber viel stärker auf aktuelle Boulevardberichterstattung und vor allem sensationelle Bilder. Ihre Zielgruppe war die Masse des Bürger- und Kleinbürgertums, weniger die gebildete Elite, und auch nicht die Arbeiterschaft.<p>Es dauerte nicht lange und das "Interessante Blatt" erhielt Konkurrenz von anderen Bilderzeitungen. 1893 wurden die Wochenblätter "Österreichische Illustrirte Zeitung" (kurz vor 1900 umbenannt in "Österreichische Illustrierte Zeitung" und wenig später in "Österreichs Illustrierte Zeitung") gegründet, seit 1896 erschienen die von Vinzenz Chiavacci gegründete Zeitschrift "Wiener Bilder". Nun hatte auch in Österreich die Ära des Fotojournalismus begonnen.<p>Zeitungen lassen sich, das ist heute nicht viel anders als um die Wende zum 20. Jahrhundert, nicht gerne in ihre Bücher schauen. Über das Innenleben des Unternehmens, Eigentumsverhältnisse, Beteiligungen, Geschäftsentwicklung, Anzeigengeschäfte, Personalstand oder etwa auch Druckauflagen herrscht nach außen oft Stillschweigen. Das gilt auch für "Das interessante Blatt". Im November 1897, es hatte gerade einen steilen kommerziellen Aufstieg hinter sich, gab man sich selbstbewusst und ließ die Leser einen Blick hinter die Kulissen der Zeitungsproduktion werfen.<p>Ein Foto zeigt den Druck des "Interessanten Blattes" in der Druckerei Waldheim. Etwa zwei Dutzend Angestellte - der Großteil von ihnen sind Frauen - arbeiten an den elektrisch betriebenen "Illustra-
tions-Druckmaschinen", auf denen sich Druckproben und fertige Zeitungsblätter stapeln (siehe Abb. links). Um die Lichtverhältnisse zu optimieren, ist das Dach verglast und kann bei direkter Sonneneinstrahlung mit Tuchbahnen abgedeckt werden.<p>
Ein früher Medienkonzern
<p>In den ersten Jahrzehnten hatte das "Interessante Blatt" seinen Sitz im traditionellen Wiener Zeitungsviertel, und zwar in der Schulerstraße 14. In dieser Straße und in den anliegenden Gassen, etwa in der Wollzeile, der Bäckerstraße, der Singerstraße, am Fleischmarkt oder in der Rotenturmstraße, hatten vor 1914 alle wichtigen Zeitungen und Journale der Hauptstadt ihre Redaktionen, Anzeigenbüros und Vertriebslokale. 1912 zog das "Interessante Blatt" in einen hochmodern ausgerüsteten Neubau in der Rüdengasse 11, im dritten Wiener Gemeindebezirk. Ein Jahr zuvor, 1911, hatte der Wiener Druckereibesitzer und Verleger Karl Groak in einem überraschenden Coup die ehemaligen Konkurrenten "Das interessante Blatt" und die "Wiener Bilder" in einem Verlag, der Österreichischen Zeitungs- und Druckerei-Aktiengesellschaft, zusammengeführt.<p>Damit war in der österreichischen Illustriertenlandschaft mit einem Schlag ein hegemonialer Konzern entstanden. Im April 1914 stellte das "Interessante Blatt" als erste österreichische Illustrierte auf den aufwendigeren Kupfertiefdruck um.<p>
Dynamisch gestaltete Bildseiten
<p>Die Nachkriegszeit begann für den Medienkonzern turbulent. 1919 wurde das Zeitungsunternehmen von Richard Kola, einem waghalsigen Spekulanten, übernommen. In rascher Folge kaufte er Buch- und Zeitschriftenverlage, Druckereien und Papierfabriken zu. Aber bereits Mitte der 1920er Jahre verlor er in Folge eines Bankenkrachs seine Spekulationsgewinne wieder.<p>1927 übernahm die Kommanditgesellschaft Fleischer & Co. den Zeitungskonzern. Sie konnte das Unternehmen in den folgenden Jahren einigermaßen stabilisieren. Ab den 1920er Jahren wurde die Boulevardberichterstattung zugunsten eines modernen Fotojournalismus zurückgedrängt. Nun wurden öfter optisch ansprechende, dynamisch gestaltete Bildseiten und geschickt inszenierte Fotoreportagen gedruckt.<p>Die wegweisenden Innovationen in der illustrierten Zeitungslandschaft kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Berlin. Große Konzerne, wie Scherl, Mosse und vor allem Ullstein revolutionieren den Markt. Diesen Unternehmen war es bereits vor und um 1900 gelungen, die Zeitungsauflagen rasant zu steigern. Mosse setzte auf die systematische, aggressive Erschließung neuer Anzeigengeschäfte. Scherl führte neue Vertriebsformen ein, indem er Gratis- und später Billigzeitungen mit einer Massenauflage produzierte. Das Haus Ullstein verdankte seinen ökonomischen Erfolg ursprünglich der Papierproduktion und dem Druckereigewerbe, aus dem schließlich ein weit verzweigter Medienkonzern hervorging.<p>In den 1920er Jahren beschleunigte sich in Berlin der Modernisierungsprozess der Presse. Die Auflagen schnellten weiter in die Höhe. Allein die führende Wochenillus-trierte "Berliner illustrirte Zeitung", die 1894 noch wöchentlich 23.000 Exemplare verkauft hatte, konnte ihre Auflage bis 1929 auf knapp zwei Millionen steigern. Ganz anders war die Situation in Österreich. Hier war die Zeitungslandschaft nach 1918 von Unsicherheit und Finanzknappheit gekennzeichnet. Im jungen Kleinstaat Österreich blieben die Auflagen im Vergleich zu Deutschland relativ bescheiden. "Das interessante Blatt" kam selten über 50.000 verkaufte Zeitungen hinaus, die "Wiener Bilder" verkauften wöchentlich knapp über 30.000 Exemplare.<p>
Zuerst konservativ, dann NS-Propaganda
<p>Die Geschichte des "Interessanten Blattes" ist ein schönes Lehrbeispiel für den Erfolg und die spezifische Bauart der Boulevardpresse. Erfolg hat dieser Typ Presse damals wie heute mit einer Doppelstrategie: er bedient mit seiner Sensationsberichterstattung bewusst die Echoräume kleinbürgerlicher Fantasien und Ängste. Und er befestigt dieses journalistische Programm im - in der Regel konservativen - politischen Mainstream. Das "Interessante Blatt" hat diesen Spagat lange Zeit mit Bravour beherrscht.<p>Vor allem in seiner Anfangszeit druckte das Blatt voyeuristische Bildberichte über Sex, Gewalt und Verbrechen, um im selben Atemzug nach Ruhe, Ordnung sowie gesellschaftlicher und moralischer Stabilität zu rufen. Die kleinbürgerliche Leserschaft wurde mit verbotenen Verheißungen geködert, um sogleich wieder in die Grenzen von Moral und Anstand verwiesen zu werden.<p>Die politische Linie war stets konservativ und staatstragend. In der Monarchie gab sich das Blatt österreichisch-patriotisch, in der Ersten Republik liberal-konservativ, nach 1933 unterstützte es den christlichsozialen Ständestaat. Im März 1938 schwenkte die Zeitung von einer Woche auf die andere auf stramm nationalsozialistischen Kurs ein. "Wien jubelt dem Führer zu!", titelte das "Interessante Blatt" am 17. März und brachte am Umschlag ein Bild, das Hitler im offenen Mercedes auf seiner Fahrt durch die Hauptstadt zeigt.<p>Die personell "gesäuberte" Redaktion huldigte nun Woche für Woche der NS-Ideologie. Anfang September 1939, nach dem deutschen Überfall auf Polen, begann die letzte Etappe der über sechs Jahrzehnte langen Zeitungsgeschichte. "Das interessante Blatt" wurde in "Wiener Illustrierte" umbenannt, in der nun auch die "Wiener Bilder" aufgingen. Grafisch modernisiert, stellte sich die Zeitung nun ganz in den Dienst des nationalsozialistischen Eroberungskrieges. 1944, als die Niederlage der Wehrmacht bereits absehbar war und Papiermangel die Einstellung vieler Zeitungen erzwang, kam auch das Ende der "Wiener Illus-trierten". Ohne Kommentar wurde sie eingestellt.
Anton Holzer, geboren 1964, Fotohistoriker, Publizist und Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte", lebt in Wien. Zuletzt erschien im Primus Verlag, Darmstadt, sein Buch: "Rasende Reporter. Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus". www.anton-holzer.at