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Kalifornien - Das andere Amerika

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

Feuer hin, Virus her: Kalifornien unterscheidet sich massiv vom Rest der USA. Die Gründe dafür liegen weniger in der Strahlkraft von Silicon Valley und Hollywood als an jenen gesellschaftlichen Veränderungen, die anderswo noch bevorstehen.


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"Whatever starts in California, unfortunately, has an inclination to spread."

Jimmy Carter,

39. Präsident der USA

Es ist dieser Tage manchmal schwer zu vermitteln, wie das ist, im Jahr 2020 in Kalifornien zu leben. Zu viel passiert auf einmal und dieses Zuviel lässt keinen einzigen der fünf Sinne unberührt, im Guten wie im Bösen. Die vergangene Woche war wieder so eine, in der die Götter auf den Golden State hinunter schauten und sich offenbar sagten: So, und jetzt schauen wir mal, wie die mit all dem fertig werden. Nummer eins: das Wetter.

Anfang der Woche waren auf die letzte Hitzewelle, die von San Francisco bis San Diego für gigantische Flächenbrände und dutzende Todesopfer sorgte, endlich ein paar kühle Tage (sprich mit Tageshöchsttemperaturen zwischen 20 und 25 Grad Celsius) gefolgt. Grund zum Aufatmen gab es trotzdem weder für die Feuerwehr noch für die Rettung. Denn auch wenn es in Kalifornien nicht vom Himmel brennt, sind da immer noch die Winde mit den berühmten Namen: Im Norden die nicht umsonst nach dem Leibhaftigen persönlich getauften "Diablos" und im Süden die "Santa Anas"; sogenannte Gefällewinde, deren kennzeichnendes Merkmal aus enormer Stärke gepaart mit extremer Trockenheit besteht.

Anfang der Woche hatten letztere Teile des Los Angeles vorgelagerten Orange County derart unter Feuer gelegt, dass fast 100.000 Menschen evakuiert werden mussten. Die Rauchwolken hingen derweil weit in die 10-Millionen-Metropole hinein und verströmten jenen seltsam süßlichen Geruch, der hier mancherorts schon fast zur täglichen Begleiterscheinung zählt.

Viele Corona-Fälle

Nummer zwei: das Coronavirus. Wenn diejenigen Kalifornier, die ihre Stimmen bis dahin noch nicht abgegeben haben, am Dienstag in die Wahllokale gehen, wird die Zahl derer, die sich angesteckt haben, bei knapp einer Million liegen. Bisher sind rund 18.000 an den Folgen von Covid-19 gestorben, von mittlerweile insgesamt rund 230.000 Amerikanern. Obwohl sich in den Metropolen die überwältigende Mehrheit an die üblichen Vorschriften hält - Maske tragen, Hände waschen, Social Distancing -, bringt nur Texas so viele Fälle zusammen.

Was auch an vereinzelten "Super-Spreader Events" liegt, wie jenes vom vergangenen Dienstag. Als die Los Angeles Dodgers um halb neun Uhr Ortszeit im texanischen Arlington den letzten Pitch gegen die Tampa Bay Rays versenkten und der Stadt der Engel die Baseball-Weltmeisterschaft sicherten, brachen kurzfristig alle Dämme. Während das Rathaus in Dodgers-Blau erstrahlte und die Skyline von Feuerwerk erleuchtet wurde, strömten von Compton bis Beverly Hills Zehntausende auf die Straße, um den ersten Sieg in der World Series seit 1988 zu feiern.

Als ob dem nicht genug wäre, Nummer drei: die Präsidentschaftswahl.

Nämliche stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten, selbst hier, wo die Demokraten das Bundesstaatsparlament mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit regieren und die einzige Frage lautet, ob Joe Bidens Sieg mit 30 oder 40 Prozent Vorsprung ausfallen wird. Aber wie kommt es, dass Kalifornien, das mit seinen rund 40 Millionen so viele Einwohner hat wie Spanien - jenes Land, das diesen Teil der Westküste in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Erstes kolonialisierte -, politisch derart anders tickt als der Rest des Landes?

Wirtschaftliche Supermacht

So mannigfaltig sich die Gründe für den kalifornischen Sonderweg darstellen, so logisch und fast banal erscheinen sie auf den zweiten Blick. Wirtschaftlich steht Kalifornien seit jeher ungleich besser da als alle anderen US-Bundesstaaten. Nachdem sich eine Mehrheit der Briten 2016 für den Brexit entschieden und dessen erste ökonomische Folgen zutage traten, stieg Kalifornien von der sechst- zur nunmehr fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt auf. Für sich allein genommen betrug das zwischen San Diego im Süden und der Hauptstadt Sacramento im Norden erarbeitete Bruttoinlandsprodukt 2019 rund 3,2 Billionen Dollar - größer als das von Indien. In manchen Teilen Kaliforniens, allen voran dem, der unter dem Chiffre Silicon Valley firmiert, wird trotz Corona-Krise und explodierenden Arbeitslosenzahlen nach wie Geld gescheffelt wie Heu.

Marginalisierte Republikaner

Wiewohl milliardenschwere Rechtsausleger wie der homosexuelle Trump-Verehrer Peter Thiel (Facebook, PayPal) oder der auf Social Media als "Sozi-Fresser" alter Schule bekannte Tesla- und Space-X-Gründer Elon Musk seit langem drohen, ihre Unternehmen nach Texas auszulagern, haben sie ihren Worten bisher nur eingeschränkt Taten folgen lassen. Selbst die Filmindustrie, wiewohl in den vergangenen zwei Jahrzehnten signifikant geschrumpft - was der Rest der Welt unter dem Kürzel Hollywood subsumiert, beschäftigt heute nicht einmal mehr drei Prozent der Werktätigen von Los Angeles County -, freut sich über einen Schub an Konsumenten, die weltweit virusbedingt zuhause bleiben und ihre Produkte konsumieren.

Den politischen Sonderweg Kaliforniens erklären aber weder der Einfluss der schönen neuen Digital- noch jener der klassischen Unterhaltungsindustrie. Der Schlüssel zum Verständnis, wie ausgerechnet jener Bundesstaat, der konservative Ikonen wie Richard Nixon (Präsident 1969-1974) und Ronald Reagan (1980-88) hervorbrachte, zur Festung der Demokraten mutierte, liegt allem voran an jenen demografischen Veränderungen, vor denen sich die Trump-Anhänger im Rest des Landes fürchten wie der Teufel vorm Weihwasser.

Weiße in der Minderheit

Auch wenn es keine ethnisch dominante Gruppe in Kalifornien gibt, stellen Weiße dort nicht mehr die Mehrheit - und werden sie wahrscheinlich auch nie wieder erlangen. Laut den aktuellsten Zahlen des im Auftrag der Bundesregierung durchgeführten American Community Survey setzt sich seine Bevölkerung heute so zusammen: 39 Prozent Latinos und Hispanics, 37 Prozent Weiße, 15 Prozent Asien-Stämmige, sechs Prozent Afroamerikaner, drei Prozent vielrassig ("multiracial"), ein Prozent Ureinwohner und Zugezogene von den Pazifischen Inseln.

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Bis in die Neunziger noch als "Swing State" mit teilweise schwer konservativem Einschlag geltend, schafften sich die Republikaner in Kalifornien seitdem selber sukzessive ab - ironischerweise mit Hilfe genau jener Parolen, die Trump seit vier Jahren landauf, landab propagiert. Mit Gesetzen und Verordnungen, die offen auf die Einschränkung der Rechte aller Nicht-Weißen, Nicht-Heterosexuellen und legalen wie illegalen Einwanderern abzielten, schrumpften die kalifornischen Republikaner binnen der nächsten zwei Jahrzehnte zu jener radikalisierten Sekte zusammen, die sie heute sind.

California for President?

Wie dramatisch ihre Lage ist, belegt das Zahlenwerk. Von den 53 Abgeordneten zum Repräsentantenhaus, die die kalifornische Delegation stellt, zählen die Demokraten heute 45, die Republikaner sieben. (Der verbleibende Sitz eines 2019 wegen Korruption und Amtsmissbrauch rechtskräftig verurteilten Konservativen aus San Diego bleibt bis zur Wahl verwaist.)

Kurioser Nebeneffekt: Mit Nancy Pelosi (Wahlkreis CA-12) und Kevin McCarthy (CA-23) stellt Kalifornien heute im Unterhaus sowohl die Mehrheitssprecherin wie den Vorsitzenden der Minderheit. Falls Joe Biden am Dienstag gewinnen sollte, wird der Bundesstaat zudem eine Vizepräsidentin bekommen: Kamala Harris dient bis heute neben Dianne Feinstein als Senatorin, die erste Afroamerikanerin in dieser Funktion.

Sollte sich Biden an seine im Wahlkampf gemachte Ankündigung halten und nach nur einer Amtszeit den Hut nehmen, wird die Frage an Amerika 2024 lauten, ob es bereit ist für eine schwarze Frau im Weißen Haus; eine aus jenem Bundesstaat, in dem die Zukunft, die dem Rest des Landes und der Republikanischen Partei angesichts der demografischen Entwicklungen langfristig bevorsteht, bereits Gegenwart ist - und weder Wetter, Wind noch Viren können daran noch etwas ändern.