Der Nuklearmediziner Alexander Becherer erklärt, wann und wie der Einsatz der derzeit begehrten Pillen nötig ist.
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Kaliumjodidtabletten sind derzeit der Verkaufsschlager. Denn der Krieg in der Ukraine hat zuletzt die Angst vor radioaktiver Strahlung geschürt. Kaliumjodid bietet dem Körper den besten Schutz davor. Warum es jedoch nicht notwendig ist, die derzeit so begehrten Pillen zu horten und wann deren Einsatz überhaupt sinnvoll ist, erklärt der Nuklearmediziner Alexander Becherer vom Landeskrankenhaus Feldkirch im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
Die Schilddrüse ist eine lebenswichtige Hormondrüse des Menschen und spielt eine wichtige Rolle für den Stoffwechsel, das Wachstum und die Entwicklung des Körpers. Sie hilft dabei, zahlreiche Körperfunktionen zu regulieren. Trifft radioaktive Strahlung auf den Organismus, speichert die Schilddrüse diese. Vor allem für Kinder und junge Menschen kann das schädlich sein, betont der Mediziner. Kaliumjodid bildet "eine Blockade und schützt die Schilddrüse davor, dass sie Radioaktives aufnimmt". Besonders wichtig sei die Maßnahme allerdings nur bis zum 40. Lebensjahr. Darüber seien die Erwachsenen weniger strahlenempfindlich. Man setze sich "keiner höheren Gefahr aus, wenn man es nicht nimmt". Das traurige "Realexperiment Tschernobyl" habe gezeigt, dass das Schilddrüsenkarzinom vor allem bei Kindern und Jugendlichen in den Umgebungsgebieten der Unfallstelle deutlich angehoben war.
Gefahr für Österreich gering
Am 26. April 1986 war es im Atomkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine zum bisher schwersten Unfall in der Geschichte der Kernenergie gekommen. Zwei Explosionen hatten einen der vier Reaktorblöcke zerstört und radioaktives Material in die Atmosphäre geschleudert. Das verseuchte weite Teile Russlands, Weißrusslands und der Ukraine. Die radioaktive Wolke war bis nach Mitteleuropa und zum Nordkap gezogen. "In Österreich haben wir zum Glück nur wenig von dem Niederschlag abbekommen", sagt Becherer.
Grundsätzlich sei die Gefahr, dass Österreich - bzw. Mittel- und Westeuropa - größere Mengen an Radioaktivität abbekommen, eher gering. "Zumeist ist die Wetterlage für uns günstig", so der Nuklearmediziner, sodass der Wind mögliche verseuchte Wolken eher in den Osten treibt. Beim Unglück in Tschernobyl waren die Wetterverhältnisse allerdings genau zu diesem Zeitpunkt andere. Davor sei man nicht gefeit.
Doch im Fall der Fälle hätten "wir Zeit, bis das bei uns ankommt" und damit auch Handlungsspielraum, um sich darauf vorzubereiten. Auch mit der Versorgung von Kaliumjodid. Säuglinge im ersten Lebensmonat erhalten eine viertel, Kinder bis zum dritten Lebensjahr eine halbe Tablette. Bis zum 13. Lebensjahr wird eine Tablette verabreicht, bis zum 40. Lebensjahr sind es zwei. Das erfolgt einmalig, erklärt der Mediziner.
Eine wiederholte Einnahme sei nur in Ausnahmefällen nötig - nämlich dann, wenn über viele Tage hinweg ein starker radioaktiver Fallout zu erwarten ist. Kindern wird Kaliumjodid nur einmal gegeben, da die Wirkung bei ihnen viel länger anhält. Durch eine wiederholte Gabe könnte die Schilddrüsenfunktion gar in eine Unterfunktion getrieben werden. "Das ist für Kleinkinder schlecht, denn sie brauchen für die Entwicklung unbedingt eine normale Funktion."
Nur nach Aufforderung
Bei der Einnahme soll man nur nach Anweisung der Behörden handeln, betont Becherer. "Zu hohe Dosen von Jod können bei vorhandenen Schilddrüsenknoten oder anderen Erkrankungen, von denen man möglicherweise gar nichts weiß, eine kritische Überfunktion auslösen." Das betreffe vor allem ältere Personen. Deshalb liegt auch die empfohlene Grenze bei 40 Jahren.
"Wir sprechen hier von einer Kaliumjodid-Prophylaxe in Folge eines Kernkraftwerksunfalls", so der Experte. Sollten im schlimmsten Fall militärische Atomsprengkörper zum Einsatz kommen, dann sei Kaliumjodid gar nicht angebracht. Denn die Strahlung ist eine andere und tritt nur in geografischer Nähe zur Explosion auf. Bei einer Atomexplosion wird nämlich nicht radioaktives Jod freigesetzt, sondern es sind Gammastrahlen - wobei die Strahlenwirkung ab einem Umkreis von rund fünf Kilometern "schon wieder irrelevant ist". Dagegen könne man sich auch nur schlecht schützen.
Für alle Formen von Strahlenunfällen gilt grundsätzlich: In Innenräumen Schutz suchen, Fenster dicht und geschlossen halten und je nach Lage mit ein paar Tagen Aufenthalt rechnen. Kaliumjodidtabletten sind nur nach behördlicher Aufforderung einzunehmen. "Man muss sich keine Sorgen machen, dass man im Ernstfall an keine Tablette herankommt. Es ist genug da", betont Becherer. Denn für besonders gefährdete Gruppen gibt es einen entsprechenden Vorrat, der nicht abgegeben wird. Zudem sind auch die Gemeinden selbst, Schulen, Kindergärten und vielerorts auch die Feuerwehr bevorratet. "Horten ist nicht sinnvoll." Als persönlicher Vorrat reiche eine Tablettenpackung bei Weitem.
Muss man im Katastrophenfall das Haus verlassen, seien ein Regenschirm, flüssigkeitsabweisende Kleidung, dichtes Schuhwerk und eine FFP2-Maske ratsam. Doch die Belastung unbeteiligter Personen sei weit geringer als die von allfälligen Aufräumarbeitern, beruhigt der Mediziner.