Was die Intelligenz betrifft, sind Reptilien lange Zeit unterschätzt worden.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Berlin. Krokodile gelten nicht unbedingt als geistige Überflieger: Stundenlang bewegungslos am Flussufer herumliegen, zwischendurch abtauchen und ab und zu ein unvorsichtiges Beutetier schnappen. "Die meisten Menschen halten Krokodile für lethargisch, dumm und langweilig", resümiert Vladimir Dinets von der University of Tennessee in Knoxville. Der Zoologe hat im Rahmen seiner Forschungen einen ganz anderen Eindruck gewonnen.
Erst kürzlich hat er herausgefunden, dass zumindest zwei Krokodil-Arten auf eine raffinierte Jagdtechnik setzen und ihre Opfer mithilfe von Stöcken ins Verderben locken. Damit gehören sie zum exklusiven Kreis von Tieren, die Werkzeuge einsetzen - eine Fähigkeit, die noch vor ein paar Jahrzehnten als typisch menschlich galt. Und sie sind nicht die einzigen Reptilien mit ungeahnten Talenten. Auch Schildkröten und Warane sind offenbar lange unterschätzt worden.
Eine andere Liga?
Die meisten Verhaltensforscher konzentrieren sich auf Säugetiere und Vögel. Doch spielen diese Tiere mental tatsächlich in einer anderen Liga als Krokodile und Co.? Immerhin gehen alle Reptilien, Vögel und Säugetiere auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück, der vor etwa 280 Millionen Jahren lebte. Es könnte also durchaus noch ein gemeinsames geistiges Erbe geben.
Für einen Talent-Vergleich sind die Fähigkeiten von Reptilien allerdings noch nicht gut genug untersucht. So gibt es zwar unzählige Studien über den Werkzeuggebrauch von Säugetieren und Vögeln. Das Spektrum reicht von Schimpansen, die mit Steinen Nüsse knacken, bis zu Krähen, die mit Drahtstücken nach Futter stochern. Zum ersten Mal hat der Forscher nun ein ähnliches Verhalten bei Sumpfkrokodilen in Indien beobachtet. Stundenlang lagen die Tiere bewegungslos im flachen Wasser und balancierten kleine Zweige auf ihren Schnauzen. Erst als ein Reiher landete und den Schnabel nach einem solchen Ästchen ausstreckte, schnappte das Krokodil zu. Ein Zufall?
Nistmaterial ist in Reiherkolonien oft knapp, sodass ein Stöckchen ein durchaus wirksamer Köder sein könnte. Ein Jahr lang hat Vladimir Dinets Alligatoren überwacht, die in verschiedenen Gewässern Louisianas lebten - mit und ohne Reiherkolonien in der Nachbarschaft. Stöcke auf der Nase zu tragen, ist in Alligator-Kreisen offenbar nur zur Reiher-Brutzeit angesagt - vor allem in der Nestbauphase zwischen März und April.
Die Anwohner der Vogelkolonien zeigten dieses Verhalten deutlich häufiger als ihre Kollegen in anderen Abschnitten des gleichen Gewässers. Die Tiere scheinen also nicht nur Werkzeuge zu benutzen, sondern deren Einsatz sogar auf die passende Jagdsaison abzustimmen. Die Forscher wissen aber noch nicht, ob es sich um ein angeborenes oder erlerntes Verhalten handelt, um eine Strategie oder Tradition, die von Generation zu Generation weitergereicht wurde.
Fressbar oder nicht?
Die Erfahrung, dass man die Intelligenz von Tieren unterschätzen kann, haben auch andere Forscher gemacht. Ein beliebter Test für Tiere besteht etwa auch darin, ihnen Fotos zu zeigen, um zu sehen, ob sie Gegenstände erkennen können. Etliche Vögel und Säuger sind dieser geistigen Herausforderung gewachsen. Aber Reptilien?
Ein Team um Anna Wilkinson von der University of Lincoln in Großbritannien und Ludwig Huber von der Uni Wien hat das an südamerikanischen Köhlerschildkröten getestet. Sie hatten die Wahl zwischen fressbaren und nicht fressbaren Objekten. Entschieden sie sich für das Fressbare, durften sie es verspeisen. Schließlich erkannten die Tiere auch auf Farbfotos den Unterschied, ob sie ein Stück Obst vor sich hatten oder eben nicht. Sollten sie sich allerdings zwischen dem Bild und dem echten Objekt entscheiden, gerieten die Tiere an ihre Grenzen. Hier wählten sie nur nach dem Zufallsprinzip.
Bei anderen Tests haben die Tiere dagegen überraschend gut abgeschnitten. Fixiert eine andere Schildkröte etwa einen Lichtpunkt an der Wand, den sie selbst nicht sehen kann, schauen sie in den meisten Fällen ebenfalls in die Blickrichtung des Artgenossen. Das klingt nicht spektakulär, denn immerhin kann es nützlich sein, wenn man darauf achtet, wohin die Gefährten schauen.
Doch im Gegensatz zu Säugetieren oder Vögeln, die in der Gruppe leben und ein wesentlich ausgeprägteres Sozialverhalten zeigen, sind Schildkröten Einzelgänger. Warum sollten sie Interesse für die Blickrichtung ihrer Artgenossen aufbringen? Die Forscher vermuten, dass dieses Verhalten ein Erbstück der gemeinsamen Ahnen sein könnte.
Die gepanzerten Südamerikaner haben aber auch in anderen Versuchen bewiesen, dass man sich trotz eines Hangs zur Eigenbrötlerei erfolgreich an den anderen orientieren kann. Etwa wenn es darum geht, um ein Hindernis herum zur Futterstelle zu gelangen. Allein scheiterten die Tiere an dieser Aufgabe. Konnten sie aber einen Kollegen, der die Strecke schon kannte, beobachten, erreichten sie das Ziel problemlos. Auch konnten sie das Wissen auf neue Situationen übertragen, etwa wenn das Hindernis eine andere Form aufwies. Damit hatte Wilkinson erstmals nachgewiesen, dass soziales Lernen auch ohne ein geselliges und komplexes Zusammenleben funktioniert.
Problemlösungskompetenz
Überhaupt scheinen Reptilien lernfähiger zu sein, als es die Wissenschaft ihnen lange zugetraut hatte. So sind sie durchaus in der Lage, für neu auftretende Probleme eine Lösung zu finden. Das zeigen Versuche, die Gordon Burghardt von der University of Tennessee in Knoxville und sein Team mit Schildkröten und Waranen durchgeführt haben. Darin lernten Florida-Rotbauch-Schmuckschildkröten in kürzester Zeit, durchsichtige Plastikflaschen umzuwerfen, um an das darunter liegende Futter zu kommen. Und sie konnten sich ein Jahr später noch an diesen erfolgreichen Trick erinnern.
Vor einer ähnlichen Aufgabe standen auch die Weißkehlwarane, denen die Forscher Beutetiere in einem durchsichtigen Plastikrohr anboten. Sie lernten in zehn Minuten, die Klappe am Ende des Rohrs zu öffnen, den Kopf hineinzustecken und die kleinen Mäuse zu verspeisen. In kürzester Zeit hatten die Tiere also gelernt, mit dem unbekannten Apparat richtig umzugehen - eine Leistung, mit der sie sich auch vor Säugetieren nicht verstecken müssen.