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Kälte macht gesellschaftsfähig

Von Eva Stanzl

Wissen
Goldene Stupsnasenäffchen kennen verschiedene Formen der sozialen Organisation.
© Guanlai Ouyang

Länger stillen, mehr Fürsorge: Anpassungen an ein kaltes Klima fördern die soziale Evolution.


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Der Norden Europas gilt als beispielhaft für soziale Gerechtigkeit. Anders als liberal-angelsächsische oder konservativ-kontinentaleuropäische Länder zeichnet sich das sozialdemokratisch-skandinavische Modell durch Toleranz und hohe gesellschaftliche Mobilität aus. Der Zusammenhang zwischen dem eigenen und dem Einkommen der Eltern ist geringer, es gibt weniger arme Kinder, ausreichend vorhandene Betreuungseinrichtungen für Nachwuchs, ein hochwertiges Bildungssystem und eine hohe Akzeptanz von Forschung.

Wissenschaftern zufolge ist all dies das Ergebnis politischer Anstrengungen. Doch woher kommt die egalitäre Grundhaltung, der soziale Zug zum Tor? Ein Forschungsteam liefert eine Erklärung, die tief bis in die Entwicklungsgeschichte von Primaten zurückreicht: Anpassungen an ein Leben in einem kalten Klima fördern die soziale Evolution.

Die Forschenden wollen erstmals Beweise gefunden haben, dass die langfristige Anpassung an ein Leben in einem kalten Klima zur Entwicklung sozialer Verhaltensweisen geführt hat. Dazu zählen die Fürsorge der Mütter für ihren Nachwuchs, längere Stillperioden, eine steigende Überlebensrate von Säuglingen und ein Leben in großen, komplexen, mehrstufigen Gesellschaften.

Im Fachmagazin "Science" berichten die britische Universität Bristol, die Northwest University in China und die University of Western Australia, wie sich einerseits die asiatische Primatengruppe der Languren und andererseits die Schlank- und Stummelaffen aus der Gruppe der Kolobinen im Laufe der Zeit angepasst haben.

Sie alle leben sowohl in tropischen Regenwäldern als auch in schneebedeckten Bergen und kennen verschiedene Formen der gemeinsamen Organisation. Dadurch eigneten sie sich laut den Forschern, um Mechanismen, die die soziale Evolution von einem gemeinsamen Vorfahren bis zu heutigen Systemen des Zusammenlebens vorangetrieben haben, zu untersuchen.

Hormonelle Selektion

Das Team kombinierte Daten aus ökologischen, geologischen und fossilen Untersuchungen mit genetischen und Verhaltensanalysen. Man entdeckte dabei, dass Kolobinen, die in kälteren Umgebungen zu Hause sind, dazu neigen, in größeren, komplexeren Gruppen zusammenzuleben. Zudem hätten diese Primaten in den Eiszeiten der letzten sechs Millionen Jahre Gene hervorgebracht, die am kältebedingten Energiestoffwechsel und an der neuro-hormonellen Regulation beteiligt sind.

Schlankaffen, die an extrem kalten Orten lebten, brachten überdies neue Pfade für die Hormone Dopamin und Oxytocin hervor, die die mütterliche Fürsorge verlängern können. Das Ergebnis sind längere Stillzeiten und höhere Überlebensraten der Säuglinge. Laut dem Forschungsteam haben diese Anpassungen die Beziehungen zwischen den Individuen gestärkt und die Toleranz zwischen den Männchen gesteigert. In der Folge begannen die Primaten, nicht mehr in Gruppierungen zu leben, in den denen sich zahlreiche Weibchen um ein unabhängiges Alpha-Männchen scharten, sondern komplexere, vielschichtige Gesellschaften zu bilden.

"Unsere Studie identifiziert eine genetisch regulierte Anpassung, die mit der Evolution von Sozialsystemen bei Primaten zusammenhängt", wird Studienautor Kit Opie vom Fachbereich Anthropologie und Archäologie der Universität Bristol in einer Aussendung zitiert. "Diese Erkenntnis bietet Einblicke in die Mechanismen, die der Verhaltensevolution bei Primaten zugrunde liegen und anhand derer sozial-evolutionäre Veränderungen vieler Arten einschließlich des Menschen untersucht werden könnten."

Interessant sei in diesem Zusammenhang auch, welche Veränderungen der Klimawandel für die Evolution bringen könnte, sagt Cyril Grueter von der Abteilung für Humanbiologie der Universität von Westaustralien. "Da der Klimawandel zu einem enorm wichtigen Umweltfaktor für Tiere wird, wollen wir ein Bewusstsein dafür schärfen, welchen Verlauf die soziale Evolution nehmen wird, wenn sich das vorherrschende Klima ändert."

In einer Sonderausgabe von "Science" liefern zehn Beiträge neue Erkenntnisse über Primatengenome, die über bisherige genomische Analysen hinausgehen. "Die Tatsache, dass komplexe Gesellschaften ihre Wurzeln in klimatischen Ereignissen in der fernen Vergangenheit haben, hatte Auswirkungen das menschliche Sozialsystem", sagt Grueter.