Istanbul · Als der Gouverneur der türkischen Erdbebenprovinz Bolu, Nusret Miroglu, mit den Klagen von Erdbebenopfern konfrontiert wurde, reagierte er so, wie es viele Türken von ihren | Behörden gewohnt sind: Er ohrfeigte die Beschwerdeführerin und ließ sie einsperren. Die 26-jährige Gülsen Özer hatte sich beim Gouverneur darüber beschwert, dass dieser in einer Fernsehsendung die | Probleme in Bolu heruntergespielt hatte. Für Gouverneur Miroglu stand fest: "Eine Anarchistin."
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Beamte der Anti-Terror-Polizei nahmen die junge Frau fest, mussten sie wenig später aber wieder freilassen. "Die Probleme in Bolu wurden natürlich nicht gelöst," kommentierte die Zeitung "Star"
die Episode: Mehr als 100.000 Menschen leben in den Erdbebengebieten im Nordwesten der Türkei noch immer auf der Straße, und ihre Lage wird mit jedem Tag eher schlimmer als besser.
In der Nacht auf Mittwoch setzte im Unglücksgebiet der Herbststurm Lodos ein, der Regen und Kälte brachte. In Bolu sollen die Temperaturen am Wochenende auf sieben Grad unter Null fallen. Die
Zeltstädte sind bereits überflutet, das letzte Hab und Gut der Menschen wird durchnässt. Die türkischen Behörden haben es auch 100 Tage nach dem August-Beben nicht geschafft, menschenwürdige
Unterkünfte für die Betroffenen zu organisieren · 73.000 Opfer müssen nach wie vor in Zelten hausen.
"Der Bürgermeister sagt immer: morgen, morgen, morgen. Sonst sagt er nie was, und wir warten auf Hilfe", sagt ein Bewohner eines Zeltlagers in der Stadt Düzce, die beim zweiten schweren Beben im
November neuerlich erheblich beschädigt wurde. Das Lager besteht aus dünnen Zelten, selbst einige bunte Campingunterkünfte sind darunter. Schutz gegen die eisigen Temperaturen und den Regen ist von
ihnen nicht zu erwarten. Die Abflussgräben, die von den Zeltbewohnern gezogen wurden, können das Wasser nicht von den Behausungen fern halten. Nun ist auch noch der Strom ausgefallen, mit dessen
Hilfe zumindest einige Erdbebenopfer Heizöfchen betreiben konnten. An einigen Stellen im Erdbebengebiet versuchen die Menschen, ihre Zelte mit Plastikplanen zu umgeben, um den Regen draußen
zu halten · doch der Sturm bläst die Planen weg.
Das Versprechen der Behörden, allen Erdbebenopfern bis Ende November einen Platz in einer Fertigteilhütte zu sichern, wird von Kälte, Regen und Schlamm überholt. "Während sie auf die Häuser
warteten, kam der Winter", schreibt die Zeitung "Milliyet" über die Betroffenen. Von 26.000 Häuschen, die bis kommende Woche stehen sollten, sind nach einer Zählung der Zeitung "Radikal"
erst 4.300 fertig gestellt.
Das Bauministerium in Ankara hat optimistischere Zahlen und spricht von 20.000 fertigen Häuschen, und Minister Koray Aydin verspricht für den Stichtag des 30. November ein "Wunder". Doch gleichzeitig
wird etwas kleinlaut die Parole ausgegeben, möglicherweise werde die Fertigstellung der Häuschen bis Mitte Dezember dauern. Dazu kam jetzt noch ein weiterer Offenbarungseid: Die Behörden teilten mit,
auf dem Weltmarkt seien keine winterfesten Zelte mehr aufzutreiben. Damit wollen sie erklären, warum so viele Menschen immer noch in den völlig unzureichenden Zelten des Türkischen Roten Halbmondes
ausharren müssen.
Angesichts der vielen Pannen werfen die Islamisten der Regierung bereits vor, bei der perfekten Vorbereitung und Ausführung des Istanbuler Gipfeltreffens der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vergangene Woche wesentlich mehr Engagement gezeigt zu haben als bei der Versorgung der Erdbebenopfer. "Wenn sie wollen, können sie auch", kritisiert die
islamistische Zeitung "Milli Gazete". Und die Kritiker des Staates erhalten fast jeden Tag eine neue Bestätigung für ihre Haltung. So berichtete "Milliyet", dass die Zeltstadt
Dogukisla in der Nähe von Izmit für den Besuch von US-Präsident Bill Clinton vergangene Woche nach dem Vorbild Potemkinscher Dörfer herausgeputzt wurde. "Als der US-Präsident wieder weg war, wurden
die Arbeiten eingestellt."