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Kampagne eines Pragmatikers

Von Susanne Güsten

Europaarchiv

Istanbul - Niemand kann Recep Tayyip Erdogan vorwerfen, er bringe keine Opfer für die türkischen EU-Ambitionen. Bei seiner ersten Auslandsreise seit dem Wahlsieg seiner AK-Partei vor zehn Tagen unterbrach der gläubige Moslem bei seinem gestrigen Besuch in Italien sogar das im Ramadan vorgeschriebene Fasten, um mit dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi beim Mittagessen über die EU-Chancen Ankaras sprechen zu können. Da Reisende nach den Regeln des Islam von der Fastenpflicht befreit sind, hatte der AKP-Chef aber keine Schwierigkeiten, seinen Glauben und die türkische Außenpolitik unter einen Hut zu bringen.


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Erdogans Italien-Reise war der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Besuchen in verschiedenen europäischen Hauptstädten, bei der er die Europäer zu baldigen Beitrittsverhandlungen überreden will. Nach Einschätzung von Diplomaten haben die Türken zwar keine Chance, bereits beim EU-Gipfel in Kopenhagen in einem Monat ein Verhandlungsdatum zu erhalten - doch im griechischen Saloniki könnte es im kommenden April klappen.

Dass Erdogan als Parteichef unterwegs ist, weil er wegen einer Vorstrafe nicht Ministerpräsident werden kann, ist bei seinen Reisen allenfalls für die Protokollbeamten ein Problem. Der AKP-Chef hat keinen Diplomatenpass, sondern reist als "einfacher" türkischer Staatsbürger. Seinen Kandidaten für das Amt des Regierungschefs will Erdogan noch in dieser Woche bekannt geben; der neue Premier dürfte den AKP-Chef dann zumindest bei einigen seiner Besuche in Europa begleiten.

Mit seinem Kurzbesuch in Italien folgte Erdogan einer Einladung Berlusconis. Das türkisch-italienische Verhältnis war in den vergangenen Jahren nicht immer problemfrei - die Türken haben nicht vergessen, dass PKK-Chef Abdullah Öcalan Ende 1998 vorübergehend in Rom geduldet wurde. Zudem ist Berlusconi in der Türkei als jener Mann bekannt, der nach den September-Anschlägen in den USA von der Überlegenheit des Christentums über den Islam sprach. Doch von Verstimmungen war gestern nichts zu spüren. Italien sei ein enger Freund und Verbündeter, sagte Erdogan. Die Türkei setze auf Roms Hilfe bei der Heranführung der Türkei an die EU.

Ähnliche Botschaften wird Erdogan auch seinen weiteren EU-Gastgebern überbringen. Am Montag fliegt er zum langjährigen türkischen Erzfeind nach Griechenland und setzt damit ein Zeichen: Noch nie ist ein türkischer Politiker so kurz nach einem Wahlsieg in Athen zu Gast gewesen. Anschließend wird Erdogan in Spanien, Großbritannien und im EU-Hauptquartier in Brüssel erwartet. Kurz darauf will er sich auch in Berlin und beim derzeitigen EU-Ratsvorsitzenden Dänemark vorstellen.

Auch der türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer will bei den Partnern für die türkische EU-Kandidatur werben. Außerdem sind mehrere Delegationen der türkischen Wirtschaft und regierungsunabhängiger Organisationen in Europa unterwegs. Selbst der türkische Oppositionsführer Deniz Baykal will das Ratstreffen der Sozialdemokratischen Parteien Europas in Warschau nutzen, um für die Türkei zu werben. Alle türkischen Abordnungen haben nur ein Ziel: Sie wollen die Europäer dazu bringen, möglichst bald Beitrittsverhandlungen mit der EU-Bewerberin Türkei aufzunehmen.

Wenn die türkische Besuchsdiplomatie von weiteren Reformen oder außenpolitischem Entgegenkommen etwa beim Zypern-Konflikt begleitet wird, dürfte Ankara beim Gipfel in Kopenhagen zumindest einen Teilerfolg erringen können: Erdogan hat bereits durchblicken lassen, dass ihm eine Lösung des Zypern-Konfliktes am Herzen liegt und dass eine solche Einigung den Weg nach Brüssel ebenen könnte. Er widersprach damit dem scheidenden Ministerpräsident Bülent Ecevit. Es könnte also durchaus die Zusage geben, dass beim nächsten Gipfel in Griechenland über den Beginn von Verhandlungen entschieden wird, sagen zumindest Diplomaten. Dieses "Datum für ein Datum" würde zwar nicht alle türkischen Wünsche erfüllen, wäre aber auch kein völliger Fehlschlag. Erdogan selbst hat bereits angedeutet, dass er sich damit anfreunden könnte.