Die Ukraine will die paramilitärischen Organisationen, die sich während der Revolution gebildet haben und nun der neuen Führung zusetzen, entwaffnen.
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Kiew. Die Ukraine versucht, ihr Radikalenproblem zu lösen: Die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, hat am Dienstag für die Entwaffnung aller paramilitärischen Gruppen gestimmt, die sich im Zuge der proeuropäischen Proteste im Land gebildet hatten. In der Volksvertretung war man sich dabei weitgehend einig: Der Vorschlag wurde von 256 Abgeordneten angenommen, 47 Parlamentarier enthielten sich, Gegenstimmen gab es keine. Die Entwaffnung der sogenannten Selbstverteidigungsgruppen, die sich während der Proteste auf dem Maidan in Kiew und im ganzen Land - vor allem im Westen der Ukraine - gebildet hatten, war vor allem von Russland, aber auch vom Westen gefordert worden.
Einfach wird die Rückkehr des Gewaltmonopols des Staates in der Ukraine nicht: Zwar beauftragte die Oberste Rada den Geheimdienst und das Innenministerium, gegen die zumeist ultranationalistischen Organisationen vorzugehen. Wie das funktionieren soll, blieb aber offen. "Wir appellieren an das Gewissen der Bürger, die Waffen freiwillig abzugeben", hieß es auf Anfrage der "Wiener Zeitung" aus der Pressestelle des ukrainischen Innenministeriums. Die Frist für die Paramilitärs, ihre Waffen freiwillig abzugeben, wurde vom März auf den April ausgedehnt. Im März waren von Sicherheitskräften 1050 Waffen, mehr als 15.800 Einheiten Munition und fast 56,6 Kilogramm Sprengstoff beschlagnahmt worden, sagte die Pressestelle. Daneben wurden immerhin 6876 Einheiten verschiedener Waffen freiwillig abgegeben. In der Ukraine gibt es dazu noch eine schwer bestimmbare Menge illegaler Waffen.
Die paramilitärischen Gruppen - darunter auch jene des "Rechten Sektors", einer Rechtsaußen-Gruppierung - hatten seit dem Sturz von Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch im Zentrum von Kiew die Kontrolle übernommen. Sie hatten auch das Recht, wie die Polizei, Patrouillen durchzuführen und für die öffentliche Sicherheit zu sorgen. Was diese Sicherheit nicht immer erhöht hat: So kam es am späten Montagabend in Kiew zu einer Schießerei, in der ein betrunkener radikaler Nationalist des "Rechten Sektors" drei Menschen verletzte.
Inzwischen haben die Truppen des Rechten Sektors laut Auskunft von Innenminister Arsen Awakow im Stadtzentrum ihre Waffen aber bereits abgegeben. Sie sollen auch die Innenstadt verlassen und ihr Hauptquartier, das Hotel Dnipro, geräumt haben. Die Paramilitärs haben sich laut Awakow in ein Camp in einem Vorort von Kiew zurückgezogen.
Der Rückzug der Radikalen kam überraschend: Immerhin hatten sich in der letzten Woche immer stärkere Reibungen zwischen den radikalen Nationalisten und der Regierung entwickelt. Entzündet hatte sich der Konflikt ausgerechnet an der Person des Innenministers. Vor einer guten Woche war bei einer Polizeiaktion in der Westukraine Alexander Musytschko, einer der Anführer des Rechten Sektors, erschossen worden. Lokale Medien meldeten zunächst, der Mann, der unter dem Kampfnamen "Saschko Bilyj" in dem 1990er Jahren im ersten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft hatte, sei von den Polizisten überwältigt und dann mit Schüssen in die Brust hingerichtet worden. Das Innenministerium entgegnete, Musytschko, der in der Ukraine wegen zahlreicher Verbrechen wie Schutzgelderpressung gesucht wurde, habe bei dem Festnahmeversuch selbst das Feuer eröffnet.
Der Tod Musytschkos hatte sofort heftige Proteste seitens der Radikalen zur Folge: Unter Rufen wie "Revolution!" oder "Tribunal!" zogen Demonstranten zum Parlament und forderten den Rücktritt des Innenministers. Dort verhinderten Anhänger der Regierung die Erstürmung des Gebäudes.
"Nicht ein Schuss fiel!"
"Wenn ihr das Parlament stürmt, entsteht Chaos", schrie eine Regierungsanhängerin. "Das ist doch das, was Putin will! Dann kann er kommen und seine "Ordnung" errichten!" Die Anhänger des Rechten Sektors erwiderten, dass die Regierung nichts gegen die russische Aggression auf der Krim unternommen habe. "Wir haben die Krim ohne Schlacht, ohne Kampf hergegeben! Nicht ein Schuss fiel!", sagte ein Mann in einem Youtube-Video.
Vor dem Hintergrund dieser jüngsten Konflikte wird die Entwaffnung der Paramilitärs ein riskantes Unterfangen. Der Druck, den Russland derzeit auf die Ukraine ausübt, könnte der Regierung in Kiew helfen: Die ukrainische Führung will die Maidan-Kämpfer in die neue Nationalgarde überführen, die als zusätzliche militärische Einheit zur Landesverteidigung dienen kann. "Wir haben ihnen gesagt, der Krieg hier in Kiew ist vorbei. Wenn ihr die Verteidigung des Landes unterstützen wollt, geht zur Nationalgarde", sagte Minister Awakow. Übergangspräsident Alexander Turtschinow hatte sich vor der Abstimmung im Parlament schroff in Richtung der Paramilitärs geäußert: Wer Waffen trage und weder der Polizei noch den Sicherheitskräften oder der Nationalgarde angehöre, gehöre zu "Saboteuren, die gegen das Land arbeiten".