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Kampf der Kulturen am Bosporus

Von Ronald Schönhuber

Politik

Demonstrationen in der Türkei gehen auch am Montag großflächig weiter.


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Istanbul. Kurz bevor er am Montagmorgen das Land für einen Kurzbesuch in Marokko verließ, hatte Recep Tayyip Erdogan noch ein paar kalmierende Worte parat. "Bleiben Sie ruhig, entspannen Sie sich, all das wird sich wieder legen", versicherte der türkische Ministerpräsident seinen Landsleuten vom Flughafen in Istanbul aus. Die Menschen sollten sich nicht von jenen "extremistischen Elementen" provozieren lassen, die hinter den am Wochenende endgültig eskalierten Demonstrationen steckten.

Doch der Mann, der seit 2003 an der Spitze der Türkei steht und dem einst krisengeplagten Land eine nicht gekannte Phase der politischen Stabilität und des wirtschaftlichen Aufschwungs bescherte, läuft nach Einschätzung vieler Beobachter Gefahr, sich zu irren. Die Proteste, die sich ursprünglich an der Errichtung eines Einkaufszentrum am im Herzen von Istanbul gelegenen Taksim-Platz entzündeten, gingen auch den Montag über weiter. Nachdem es bereits bis in die frühen Morgenstunden in mehreren türkischen Großstädten zu massiven Straßenschlachten zwischen zehntausenden Demonstranten und der Polizei gekommen war, gingen die Sicherheitskräfte zu Mittag in der Hauptstadt Ankara erneut mit Tränengas gegen einen heranrückenden Protestzug vor. In Istanbul, wo es am Sonntagabend durch einen Autounfall den ersten Toten unter den Demonstranten gegeben hatte, wurden die Barrikaden in den Straßen rund um den Taksim-Platz mit Straßenschildern und Baumaterial weiter ausgebaut.

Jung, urban, säkular

Dass sich wohl nicht alles so schnell wieder legen wird, wie es Erdogan verspricht, hat vor allem mit der Struktur des Protestes zu tun. Längst geht es nicht mehr um das pompöse Einkaufszentrum im Stil einer osmanischen Kaserne, das am Taksim-Platz und im benachbarten Gezi-Park errichtet werden soll. Und mittlerweile geht es auch nicht mehr um die ausgeuferte Polizeigewalt, die den Demonstranten zu Beginn des Protests Scharen neuer Sympathisanten bescherte. Viel mehr ist es Erdogan selbst, gegen den sich die Wut und das Unbehagen der Demonstranten richtet.

Getragen werde der Protest zudem nicht nur von einigen Randgruppen oder Extremisten, sagt der Politologen und Türkei-Experte Cengiz Günay. Vor allem von der jungen, urbanen Mittelschicht wird der Kurs, den der Ministerpräsident und seine AKP (Partei für Gerechtigkeit und Wohlstand) eingeschlagen hat, zunehmend als autoritär empfunden. Dem 59-Jährigen, der in seiner letzten Amtszeit bis 2015 spürbar versucht, dem Land seinen Stempel aufzudrücken, wird unter anderem vorgeworfen, kritische Medien massiv unter Druck zu setzen und den Einfluss der AKP bis tief in die Institutionen des Staates auszudehnen. "CNN-Türkei hat eine Dokumentation über Pinguine gesendet, während in Besiktas Tränengas in Wohngebiete gesprüht wurde", klagt Menderes, der an der Technischen Universität Istanbul studiert.

Fast noch sensibler reagiert die Generation jener junger Türken, die sich eher am Leben in Paris, London oder Berlin orientiert als an den konservativen Wertvorstellungen der AKP, allerdings wenn es ihr höchstpersönliches Lebensumfeld betrifft. 2009 etwa hatte Erdogan seine Landsleute eindringlich dazu aufgerufen, mindestens drei Kinder zu zeugen, um der alternden Gesellschaft entgegenzuwirken. "Das geht in unsere Privatsphäre. Es ist nicht akzeptabel, dass Parteipolitik bis ins Schlafzimmer reicht", sagt eine junge Frau, die nun ihrem Ärger am Taksim-Platz Luft macht gegenüber der "Wiener Zeitung". Die Empörung über solche Bevormundungen war schon vor den aktuellen Großprotesten immer wieder punktuell hochgekocht. Als etwa vor kurzem in einer U-Bahnstation in Ankara ein sich küssendes Liebespaar über Lautsprecher angewiesen wurde, sich sittsam zu benehmen, versammelten sich kaurz darauf dutzende junge Paare, um sich öffentlich zu küssen.

Wie weit sich der "Kampf der Kulturen" mittlerweile entwickelt hat und wie groß die Kluft zwischen der liberalen, städtischen Elite und den konservativen Kräften ist, lässt sich auch schon an ganz banalen Dingen festmachen. Während die Demonstranten in den vergangenen Tagen den Kurznachrichtendienst Twitter oder Facebook dazu verwendeten, um sich zu organisieren, bezeichnete Erdogan die sozialen Netzwerke als schlimmste Bedrohung der Gesellschaft.

Islam auf dem Vormarsch

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Für viele jüngere Türken, die mit der strikten und vom Militär penibel überwachten Trennung von Staat und Religion aufgewachsen sind, ist die konservativ-autoritäre Wende, die Erdogan in den letzten Jahren vollzogen hat, vor allem auch das Resultat einer nicht mehr nur schleichenden Islamisierung. "Wenn es nach dem Ministerpräsidenten geht, würde ich ein Kopftuch tragen", sagt die 25-jährige Tugba Bitikas, die sich am Samstag der Protestbewegung angeschlossen hat.

Belege für ihren Verdacht haben die Erdogan-Gegner schnell zur Hand. Als im vergangenen Monat ein Gesetzesentwurf verabschiedet wurde, der den Verkauf von Alkohol stark reglementiert, begründete der Ministerpräsident das unter anderem mit dem Islam. Nur wenige Monate zuvor waren ein bekannter Pianist und ein Schriftsteller in zwei separaten Verfahren wegen Blasphemie verurteilt worden. Sie hatten sich auf dem Kurznachrichtendienst Twitter spöttisch über islamische Frömmelei und Scheinheiligkeit geäußert. "Die Türkei ist nicht nur religiöser geworden", urteilt Kadri Gursel, der als Kolumnist für die Tageszeitung "Milliyet" arbeitet. "Die Türkei wird auch religiöser gemacht."

Dass der kompromisslose und oft aufbrausende Erdogan angesichts der Proteste schnell klein beigibt, scheint derzeit aber wenig realistisch. Der Ministerpräsident, der zunehmend auch unter internationalen Druck kommt, beruft sich auf das Mandat, das er bei der Parlamentswahl vom Juni 2011 bekam, als seine AKP mit knapp 49 Prozent der Stimmen triumphierte. Und Neuwahlen, sind trotz eines wohl sicheren AKP-Sieges keine Option. Denn Erdogan hat seit 2003 bereits drei Wahlen gewonnen, eine vierte Kandidatur verbieten die Statuten der AKP. Der politische Fokus von Erdogan liegt damit auf dem Jahr 2014, wenn in der Türkei Präsidentenwahlen stattfinden und der 59-Jährige sich einen nathlosen Wechsel in das höchste Amt im Staate erhofft. Den eingeschlagenen Kurs will Erdogan auch dann weiter verfolgen. Seit einiger Zeit arbeitet der AKP-Vorsitzende intensiv daran, dass bisher eher zeremoniell ausgestaltete Präsidentenamt mit exekutiven Befugnissen auszustatten.

Mitarbeit: Linda Say, Sebastian Neumann