Zum Hauptinhalt springen

Kampf gegen die Fliehkräfte

Von Siobhán Geets aus Brüssel

Politik

Bis ernsthaft über Kerneuropa debattiert werden kann, müssen erst die Wahlen in Frankreich und Deutschland abgewartet werden.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 7 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Brüssel. Wie soll es nun, da die Briten die Europäische Union verlassen, weitergehen? Kann der EU-Austritt Großbritanniens genutzt werden, um bestimmte Bereiche, die London immer wieder blockierte, endlich voranzutreiben? Beim informellen Treffen berieten die übrigen 27 Staats- und Regierungschefs am Freitag in Brüssel darüber, welchen Kurs die EU künftig einschlagen soll. Fünf Vorschläge dazu hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorige Woche vorgelegt. Die prominenteste Idee ist ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten - ein Konzept, das sich auch in der Erklärung zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge am 25. März wiederfinden soll. Demnach könnten einige EU-Staaten bestimmte Themen vorantreiben, während andere zurückbleiben. Für diesen Vorschlag eines "Kerneuropas", um das es laut Juncker "verschiedene konzentrische Kreise" geben könne, haben sich Deutschland und Frankreich ausgesprochen. Auch Italien und Spanien gefällt die Idee.

Globaler Bedeutungsverlust

Die anderen Vorschläge in Junckers "Weißbuch" - weiter wie bisher; Reduktion auf den Binnenmarkt; mehr Zusammenarbeit; Konzentration aufs Wesentliche - sind wohl keine ernstzunehmenden Szenarien für die Zukunft. Insider meinen sogar, dass es sich hier um Alibi-Vorschläge handelt, um den Eindruck einer Wahlmöglichkeit zu erwecken.

Als Begründung für die Vorschläge hat Juncker die schwindende Bedeutung Europas in der Welt angegeben. Der "Weiter so"-Option würde daran nichts ändern, im Gegenteil: Würde alles so weitergehen, bliebe die Einigkeit wackelig - oder würde noch schwächer. Dasselbe gilt für eine auf den Binnenmarkt reduzierte EU. Wenn in anderen Bereichen gar nicht mehr zusammengearbeitet wird oder die Kooperation nur noch bilateral stattfindet, würde das die globale Bedeutung der Union schmälern.

Ein anderes Problem bereitet die Idee, sich künftig auf das Wesentliche zu beschränken. Konzentrieren sich die Mitgliedstaaten auf einige wenige Bereiche, etwa auf Sicherheit und Migration, dann müsste Brüssel mehr Kompetenzen von den Ländern erhalten - es ist fraglich, ob sie dazu bereit wären. Zudem ist alles andere als gegeben, dass sich die Mitgliedstaaten auf Prioritäten einigen können. Und in Wahrheit wäre auch diese Option ein Weniger an EU - denn Brüssel müsste sich dann aus den anderen Bereichen zurückziehen.

Das für EU-Befürworter wünschenswerteste Szenario ist indes unrealistisch: engere Kooperation, also ein Mehr an Europa. Tritt die EU als Einheit auf - ähnlich wie die Vereinigten Staaten von Amerika -, dann würde das zwar ihre Bedeutung in der Welt stärken. Doch die Vorstellung, dass das EU-Parlament das letzte Wort hat und eine Verteidigungsunion gegründet wird, klingt aus heutiger Sicht utopisch. Selbst Juncker hat angemerkt, dass vielen Bürgern dieses Szenario missfallen könnte: Sie könnten dann sagen, dass die EU den Nationalstaaten zu viel Macht absaugt.

Bleibt also der Kompromiss der Union verschiedener Geschwindigkeiten, für den auch Juncker eintritt. Denkbar ist eine selektive Zusammenarbeit bei unterschiedlichen Themen: Nicht jedes Land wäre gezwungen, bei jedem Gemeinschaftsprojekt mitzumachen. Hintergrund ist, dass es kaum ein Thema gibt, bei dem sich die EU-Staaten einig sind. Im Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, müssen Beschlüsse einstimmig getroffen werden - eine langwierige und mühsame Angelegenheit, die häufig - wenn überhaupt - zu deutlich abgespeckten Ergebnissen führt. Der Zwang zur Einstimmigkeit stammt aus alten Zeiten mit weniger Mitgliedstaaten. Heute, mit 27 beziehungsweise 28, ist es illusorisch, an eine Entscheidungsfähigkeit nach diesem Muster zu glauben. Weil die Einstimmigkeit nicht gekippt werden kann, bleibt nur die Idee eines Europas mit mehreren Geschwindigkeiten.

Zu wenige Europäer

Praktisch gesehen geht es Brüssel wohl darum, jene Länder außen vor zu halten, die ein Mehr an Europa blockieren. So lehnen etwa die Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn die Umverteilung von Flüchtlingen aus Italien und Griechenland vehement ab. Die Sorge dieser Länder, künftig als "Europäer zweiter Klasse" zurückzubleiben, wies Bundeskanzler Christian Kern bei einer Pressekonferenz nach dem Ende des Gipfels als unbegründet zurück. Als Nato-Mitglieder könnten diese Staaten beim Thema Verteidigungspolitik vorstoßen - ganz im Gegensatz zu Österreich, dessen Neutralität in der Verfassung verankert ist.

Ein großes Manko der EU wird aber auch der Juncker-Vorschlag nicht lösen: Viele Menschen fühlen sich kaum als Europäer - und ohne Europäer ist ein geeintes Europa schwierig. Viele EU-Bürger fühlen sich von den EU-Institutionen nicht vertreten, Brüssel scheint ihnen unendlich weit weg - mehr abstrakte Vorstellung als demokratische Vertretung ihrer Interessen. Beteiligungsmöglichkeiten gibt es kaum. Zudem wird eine ernsthafte Debatte darüber, wie sich die EU weiterentwickeln soll, frühestens nach den Wahlen in Deutschland und Frankreichstarten können. Bevor nicht klar ist, wer die mächtigsten EU-Staaten künftig regieren wird, ist eine Diskussion wenig sinnvoll.