Zum Hauptinhalt springen

Kampf um Lebenschancen

Von Giacomo Corneo

Reflexionen

Eine wissenschaftliche Studie dokumentiert zum ersten Mal, dass sich in Deutschland eine tiefgreifende Veränderung der ökonomischen Struktur der Arbeitnehmerschaft vollzieht.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Ungleicheit der Einkommen muss nicht immer Besorgnis erregend sein. Stört es einen zwanzigjährigen Berufseinsteiger, wenn sein sechzigjähriger Vorgesetzter doppelt so viel verdient wie er selbst? Nicht unbedingt. Wir sind daran gewöhnt, in der höheren Bezahlung der älteren Erwerbspersonen ein Zeichen ihrer längeren Berufserfahrung zu sehen. Und jeder Einsteiger hat eine begründete Hoffnung, mit der Zeit seine Position auf der Lohnskala zu verbessern.

Die Statistiken zur Ungleichheit beziehen sich in der Regel auf die Löhne oder Einkommen, die in einem bestimmten Jahr erzielt wurden; sie enthalten gleichermaßen die Verdienste zwanzigjähriger Berufseinsteiger und die ihrer sechzigjährigen Vorgesetzten. Diese Statistiken zeigen oft ein hohes Ausmaß an Ungleichheit, aber informieren uns nicht darüber, wie die Verdienste über den Verlauf des gesamten Lebens der jeweils betrachteten Personen sind. Und doch ist diese Gesamtbetrachtung entscheidend, um zu erfassen, wie stark die Lebenschancen der Personen wirklich auseinanderklaffen. Rein theoretisch könnte es nämlich so sein, dass in jedem Jahr die Löhne sehr ungleichmäßig verteilt sind, aber über den gesamten Lebenslauf gerechnet jegliche Ungleichheit verschwindet.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei spannende Fragen für die Verteilungsforschung:

Die erste: Wie ungleich verteilt sind die Gesamteinkommen, die von Menschen ein und desselben Jahrgangs während ihres ganzen Lebens erzielt werden?

Die zweite: Wie entwickelt sich eine solche Lebenseinkommensungleichheit von einer Generation zur nächsten?

Eine neue Studie

Zum ersten Mal konnte eine Studie der FU Berlin - an der ich die Ehre hatte mitzuwirken - diese grundsätzlichen Aspekte der Ungleichheit im Falle Deutschlands teilweise klären. Die gute Nachricht der Studie lautet: Die Ungleichheit der Lebenseinkommen ist deutlich weniger ausgeprägt als die Ungleichheit, die uns von den Statistiken der jährlichen Einkommen gezeigt wird. Das liegt an der Einkommensmobilität: Innerhalb jeder Generation gibt es Individuen, die mit einem schlecht bezahlten Praktikum anfangen und eine steile Karriere machen, und andere, die mit einem passablen Salär starten, aber sich in den folgenden Jahren nur mäßig verbessern. Während in einem bestimmten Jahr die Lohnschere zwischen solchen Gruppen oft weit auseinander geht, erzielen sie unterm Strich Lebenseinkommen, die nicht allzu unterschiedlich sind.

Aber - und das ist die schlechte Nachricht aus unserer Studie - diese relative Gleichheit der Lebenseinkommen ist dabei, zu verschwinden - zumindest in Deutschland, dem bisher einzigen Land, das in dieser Hinsicht untersucht worden ist. Für unsere Studie verwendeten wir Daten der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Daten bilden die Erwerbsbiographien der Versicherten ab - also die monatlichen Löhne, Zeiten der Arbeitslosigkeit, Ausbildung und Krankheit vom Berufseinstieg bis zur Verrentung. Dank diesem Datenmaterial konnten wir die Lebensverdienste der im Jahr 1935 geborenen westdeutschen Männer mit denen vergleichen, die in späteren Jahren geboren wurden. Dadurch haben wir entdeckt, dass die Arbeitnehmer des Jahrgangs 1935 eine vergleichsweise gleiche Kohorte bildeten, denn über ihr ganzes Leben gerechnet erhielten sie Gesamtlöhne, die wenig auseinanderklafften. Wenn der durchschnittliche Lebensverdienst dieser Kohorte eine Million Euro betragen hätte, fände man im Schnitt einen Unterschied von 300.000 Euro: Während der eine übers ganze Leben gerechnet 800.000 verdient hätte, würde der andere auf ein Lebenseinkommen von 1.100.000 kommen.

Wie hat sich die Ungleichheit der Lebensverdienste weiter entwickelt? Besonders aussagekräftig ist der Vergleich dieser Kohorte mit der Kohorte ihrer Kinder, die in der ersten Hälfte der sechziger Jahre zur Welt kamen - der Baby-Boom-Generation. Die Baby-Boomer befinden sich noch im aktiven Berufsleben, daher können wir ihre kompletten Lebensverdienste noch nicht messen. Allerdings können wir ermitteln, wie viel sie insgesamt bis zu ihrem 45. Geburtstag verdient haben.

Diese verkürzten Lebensverdienste lassen sich mit denen der Mitglieder der 1935-Kohorte bis zu deren 45. Geburtstag vergleichen. Das Resultat ist beeindruckend, denn wir finden, dass die Ungleichheit in der jüngeren Kohorte fast doppelt so hoch ist wie in der älteren.

Eine Vielzahl empirischer Indizien deutet klar darauf hin, dass die erhöhte Ungleichheit die Entwicklung der gesamten Lebensverdienste kennzeichnen wird. Wäre der durchschnittliche Lebensverdienst der Baby-Boomer ebenfalls eine Million, würden wir erwarten, dass die durchschnittliche Abweichung der Lebensverdienste voneinander fast 600.000 betrüge. Dies entspricht einem gewaltigen Anstieg der Ungleichheit der Lebenschancen von einer Generation zur folgenden.

Wohlgemerkt haben wir bei diesem Vergleich nur eine relativ homogene Gruppe untersucht: westdeutsche, sozialversicherungspflichtige Männer ohne Migrationshintergrund. Mithin stellt der von uns festgestellte Anstieg der Ungleichheit der Lebenschancen eine Untergrenze dar.

Epochale Neugestaltung

Von einer Generation zur nächsten ereignet sich somit in Deutschland eine tiefgreifende Veränderung der ökonomischen Struktur der Arbeitnehmerschaft. Diese Veränderung geht über die ungleiche Verteilung der Lebenseinkommen hinaus und attestiert eine epochale Neugestaltung der Konturen unserer Arbeitswelt. Da ist etwa der Befund zur Volatilität - also der Unsicherheit - der Löhne: Für die Baby-Boomer ist sie doppelt so stark wie bei ihren Eltern.

Und es gibt den Befund zur Arbeitslosigkeit: Gerade zwei Prozent der 1935 Geborenen hatten bis zu ihrem 40. Lebensjahr die Erfahrung von einem Jahr in der Arbeitslosigkeit gemacht; bei den 1963 Geborenen liegt dieser Anteil bei 28 Prozent. Während bei der älteren Generation praktisch alle Männer im Arbeitsmarkt fest integriert waren, kann dies für die jüngere Generation nicht mehr behauptet werden.

Fast universelle Integration im Arbeitsmarkt und in der Sozialversicherung, gleichmäßig verteilte und gut vorhersehbare Löhne - was für ein Unterschied zur heutigen Arbeitswelt des Prekariats, der Free-Lance-Selbständigen und der Langzeitarbeitslosen! Nicht, dass es heute keine Inseln der Glückseligen mehr gäbe, in denen der Arbeitsplatz sicher, der Lohn anständig und die Rückendeckung durch die Gewerkschaft stark sind. Aber es handelt sich eben um vereinzelte Inseln in einem vielfältigen Archipel, in dem der Tarifvertrag zunehmend verschwindet und der einmal verpönte Mindestlohn als historische Errungenschaft gefeiert wird.

Unsere Studie zeigt, dass die Ungleichheit auch bei den Kohorten weiter ansteigt, die nach dem Baby-Boom zur Welt gekommen sind. Diese Verschlechterung der Lebenschancen stellt das zentrale Problem der Generationengerechtigkeit dar. Denn es droht die Gefahr einer sozialen Spaltung, wofür die Entwicklungen in den USA während der letzten drei Jahrzehnte ein mahnendes Beispiel sind. Es ist daher wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, wie die soziale Kohäsion innerhalb der Generationen gerettet werden kann.

Eine zentrale Rolle spielt der Arbeitsmarkt. Diesbezüglich hat in Deutschland nach der Wiedervereinigung eine weitgehende Dualisierung stattgefunden. Ein Sektor mit niedrigen und unsicheren Löhnen ist entstanden. Dieser zweite Arbeitsmarkt hat den Unternehmen wertvolle Flexibilität für zusätzliche Geschäftsoptionen gebracht. Infolgedessen ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland zurückgegangen. Doch für die Lebenschancen ist die Langzeitarbeitslosigkeit entscheidend - und diese ist immer noch vergleichsweise hoch.

Die Befürworter schildern den Niedriglohnsektor als Sprungbrett für eine weitere Karriere im ersten Arbeitsmarkt, wo der Lohn gut und der Arbeitsplatz sicher ist. Aber die wenigsten schaffen einen solchen Wechsel. Auch deswegen driften die Lebensverdienste weiter auseinander.

Der neue Mindestlohn wird nicht viel für die Gleichheit der Lebenschancen bewirken können. Ideal wäre vielmehr eine Trendumkehr bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze, so dass in Zukunft mehr gute Jobs im ersten Arbeitsmarkt entstehen. Dies bedürfte aber einer koordinierten Lohnpolitik - getragen vom Solidaritätsgefühl der besser situierten Arbeitnehmer und honoriert durch den Staat mittels einer gezielten Verbesserung in der Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen.

Ein weiterer Politikbereich mit wichtigen Folgen für die soziale Kohäsion ist die Schule. Das anachronistische deutsche Schulsystem kennt eine frühe Trennung der Bildungswege, welche die Ungleichheit der Lebenschancen verschärft. Das Problem ist politischer Natur: Ähnlich wie die gut situierten Arbeitnehmer in den exportorientierten Konzernen, sind viele Familien der oberen Mittelschicht nicht bereit, auf ihren Startvorteil gegenüber den Benachteiligten zu verzichten.

Solange Arbeitsmarkt und Bildungszugang so stark dualisiert sind, bleibt die progressive Einkommensteuer ein absolut unverzichtbares Instrument, um die Ungleichheit zu verringern. Durch die Gestaltung des Steuertarifs kann der Gesetzgeber die Steuerlast so dosieren, dass die Gutverdiener einen überproportionalen Anteil davon tragen und dennoch ihre Arbeitsanreize weitgehend intakt bleiben. Deswegen wäre es dumm, den existierenden Steuertarif durch eine Flat-Tax zu ersetzen. Aus demselben Grund ist eine Umschichtung der Steuerbelastung von der Einkommensteuer zu den indirekten Steuern auf den Konsum abzulehnen.

Gerechte Erbschaft

Schließlich hat unsere Studie eine interessante Implikation für die Besteuerung von Erbschaften. Die Baby-Boomer werden nämlich von einer Generation erben, deren Lebensverdienste vergleichsweise gleichmäßig verteilt sind. Diese Erbschaften werden dazu beitragen, dass die Lebenschancen innerhalb der Baby-Boom-Generation etwas weniger ungleich verteilt sind. Steuerpolitisch spricht dieser Befund für die Beibehaltung der derzeitigen Freibeträge.

Ganz anders ist das bei der Besteuerung hoher Erbschaften. Da diese sehr stark konzentriert sind, ist eine stark progressive Belastung angesagt, um der weiteren Polarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken.

Giacomo Corneo, geboren 1963 in Arona (Piemont), ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere für Öffentliche Finanzen, an der Freien Universität Berlin.