Wie intelligent muss man sein, um zu wissen, was Intelligenz ist? Es ist gar nicht so leicht, die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns zu beurteilen, wie seinerzeit schon Tests in der fiktiven Kleinstadt Lohhausen unterstrichen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Im Jahr 1986 stellten die Psychologen Robert Sternberg und Douglas Detterman im Rahmen eines Symposions den versammelten Experten die Frage: Was ist Intelligenz? Die Antworten, die sie bekamen, waren so vielfältig und widersprüchlich, dass daraus ein dicker Reader wurde. Dabei war die Rede von "höherstufigen Verarbeitungskomponenten (logisches Schlussfolgern, Vorstellen, Problemlösen, Urteilen)", von "elementaren Verarbeitungsprozessen (Wahrnehmung, Empfindung, Aufmerksamkeit)" oder von "erfolgreichem Verhalten".
Um es klar zu sagen: Es gibt bis zum heutigen Tag keine eindeutige, wissenschaftlich gesicherte Ansicht darüber, was Intelligenz sein soll. Aus der Fülle der Ansichten lassen sich, wie Joachim Funke und Bianca Vaterrodt in ihrem Buch "Was ist Intelligenz?" darlegen, drei Tendenzen herausfiltern: Die eine zielt auf die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und untersucht Reaktionszeiten und Gedächtnisleistungen. Eine zweite Linie, die psychometrische, versucht mit statistischen Verfahren aus der Auswertung von Tests Schlüsse auf die Struktur von Intelligenz zu ziehen. Eine dritte Richtung befasst sich mit Intelligenz im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Menschen.
Aus der Schwierigkeit, Intelligenz zu definieren, ergibt sich die Schwierigkeit, Intelligenz zu messen. Erste solche Versuche wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts von dem Franzosen Alfred Binet unternommen. Im Auftrag der Regierung in Paris sollte er ein Verfahren entwickeln, um Lernbehinderungen von Schulkindern feststellen und in der Folge den Unterricht auf diese Erkenntnisse abstimmen zu können. 1905 veröffentlichte er eine Serie von Aufgaben, mit deren Hilfe vor allem die Fähigkeit, logisch zu denken, getestet werden konnte. Diesen Tests lag eine Skala bei, die bei Versuchen mit fünfzig Kindern im Alter zwischen drei und elf Jahren ermittelt worden war und Normen für die Lösung der Aufgaben vorgab. Daraus leitete sich der Begriff des "Intelligenzalters" ab, eines Leistungsstandards für jede Altersstufe. Entsprechend der Leistung bei der Lösung der Aufgaben wurde ein getestetes Kind einer bestimmten Altersstufe zugeordnet, die vom wahren Lebensalter abweichen konnte.
Während es Binet vor allem um die Entwicklung von Hilfen für den Unterricht ging, erweiterte der deutsche Psychologe William Stern aus dem Begriff des "Intelligenzalters" den "Intelligenzquotienten". In dieser Größe wird das beim Test ermittelte Intelligenzalter durch das Lebensalter dividiert, woraus sich (nach einer Multiplikation mit der Zahl Hundert) ein allgemein vergleichbarer Messwert ergibt. In den USA wendete dann David Wechsler in den dreißiger Jahren dieses Verfahren mithilfe von statistischen Mittelwerten auf Erwachsene verschiedener Lebensalter an. Eine durchschnittliche altersgemäße Leistung bei der Lösung von Testaufgaben ergab somit die Zahl hundert, Abweichungen nach oben oder unten wurden mit gößeren oder kleineren Kennzahlen ausgedrückt.
Die Reduktion einer so komplexen Eigenschaft wie "Intelligenz" auf eine einzige Maßzahl wirft natürlich jede Menge Schwierigkeiten auf. Lässt sich aus der Fähigkeit, logische Aufgaben effizient zu lösen, ableiten, dass jemand in der Lage wäre, intelligent mit schwierigen Situation in einem Unternehmen oder im Privatleben umzugehen? Hat es etwas mit Intelligenz zu tun, wenn jemand einen Fisch mit bloßer Hand fangen kann?
Interessante Ergebnisse brachte in diesem Zusammenhang ein Experiment, das in den siebziger Jahren an der Universität Bamberg stattfand. Dort versuchte man, komplexe Lebenssituationen mithilfe vom Computern zu simulieren. Der Proband wurde Bürgermeister der fiktiven Kleinstadt Lohhausen. Sie hatte mehr als 3000 Einwohner, eine Fabrik, eine Bank, Geschäfte, Wirtshäuser und vieles andere, was zu einer Kleinstadt dazugehört, alles in allem rund 2000 Variablen. Über einen Zeitraum von zehn Jahren (natürlich in geraffter Form) sollte die Testperson die Stadt regieren, wobei ihr viele Zusammenhänge, die in diesem Spiel wirksam waren, verborgen blieben. Wie es im wirklichen Leben eben so geht.
Die Ergebnisse dieser Tests brachten unter anderem eine verblüffende Erkenntnis: Wie sich eine Person als Bürgermeister von Lohhausen bewährte, stand in keinem Zusammenhang mit den Ergebnissen bei verschiedenen Intelligenztests. Einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Situationen sahen die Psychologen rund um Dietrich Dörner darin, dass bei dem politischen Experiment die Versuchsperson ihre Ziele selbst definieren musste, also entscheiden musste, was zu tun sei, um die Zufriedenheit der Bürger in der virtuellen Stadt zu erhöhen. Dagegen gibt ein Intelligenztest die Aufgaben klar vor, vor denen ein Proband steht, etwa die folgende Zahlenreihe zu vervollständigen: 1,1,2,6,24. (Nur zur Beruhigung: Die richtige Antwort lautet 120.)
Die Tests in Lohhausen unterstreichen also, was auch der gesunde Menschenverstand sagt, nämlich dass man sich davor hüten sollte, eine Zahl wie den Intelligenzquotienten zum Fetisch zu erheben. Etwas anders drückte diesen Sachverhalt ein Programmierer aus, der mit seiner Software im Jahr 2003 zur Weltmeisterschaft der Schachcomputer in Graz angereist war. Von einem Reporter gefragt, ob es ihn nicht deprimiere, mit einer Maschine zu arbeiten, die um so viel intelligenter sei als ihr Entwickler, antwortete er: "Was heißt intelligent? Wenn in der Halle ein Feuer ausbricht, laufe ich hinaus, aber die Software rechnet weiter."
Buchtipp:
Joachim Funke, Bianca Vaterrodt: Was ist Intelligenz? Verlag C.H. Beck, München, 2009.