Europas Tech-Unternehmen werden nicht nur unterschätzt, sie sind auch anfällig für Übernahmen.
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An den Börsen stehen schwergewichtige Technologiekonzerne aus den USA und China im Fokus. Dabei bietet Europa einen blühenden, wenn auch überschaubaren IT- und Technologiesektor, der beachtlich an Gewicht gewonnen hat. Binnen zehn Jahren verdreifachte sich sein Anteil an der Marktkapitalisierung des MSCI Europe-Index auf mehr als 9 Prozent. Noch höher liegt der Anteil der Tech-Werte im Blue-Chip-Barometer des Euroraums, dem Euro Stoxx 50. Dort machen die Aktien von ASML, SAP, Adyen und Infineon 17 Prozent des Indexgewichts aus.
Trotzdem erreicht die absolute Marktkapitalisierung der europäischen Tech-Werte in Europa mit 800 Milliarden Euro nur knapp das Rekordniveau vor dem Platzen der Dot-Com-Bubble vor mehr als 20 Jahren, während der Börsenwert der in den USA gelisteten Tech-Unternehmen seit damals auf mehr als das Dreifache gewachsen ist. Aktuell liegt das Rekordhoch bei umgerechnet mehr als elf Billionen Euro, gemessen am MSCI USA Technology. Ihr Anteil am MSCI USA erreicht mit knapp 29 Prozent fast das Niveau zur Jahrtausendwende.
Nur wenige Schwergewichte, aber spannende zweite Reihe
Europas Technologieaktien werden meist unterschätzt. Sie bringen trotz ihrer guten Wertentwicklung gegenüber der Konkurrenz in den USA und Asien viel weniger Gewicht auf die Waage. Zu den wenigen Schwergewichten auf dem alten Kontinent zählen der niederländische Halbleiterausrüster ASML, der mit seiner Technologie für die gesamte globale Halbleiterproduktion kaum zu ersetzen ist, oder die deutsche SAP als führende Spezialistin für Software zur Unternehmensplanung. Viele europäische Tech-Titel findet man im Bereich der mittelgroßen Unternehmen, im weiteren Sinn zählen auch wachstumsstarke Firmen aus dem Bereich E-Commerce wie About You, HelloFresh oder Zalando und Zahlungsdienstleister wie etwa Adyen, Nexi und Wordline dazu.
Für Investoren hält Europas Tech-Sektor einige Herausforderungen bereit. Zum einen sind die Diversifikationsmöglichkeiten begrenzt. Er ist eher klein, aber fein. Da viele Unternehmen größenmäßig aus der zweiten Reihe stammen, kann die Liquidität der Aktien ein kritischer Faktor sein. Die wenigen sehr liquiden Schwergewichte sind dagegen oft eine gesuchte Anlage. Das spiegelt sich in Knappheitsprämien und selbst gegenüber US-Wettbewerbern oft hohen Bewertungen wider.
Hinzu kommt: Trotz guter Kursentwicklung sind europäische Tech-Aktien nicht vor Übernahmen gefeit. Die Streubesitzanteile sind oft hoch, und in der Regel fehlt die schützende Hand eines Ankeraktionärs. Weil andernorts die Börsenwerte von Tech-Unternehmen noch viel stärker gestiegen sind, besteht hier ein Ungleichgewicht. Die moderate Marktkapitalisierung von Europas Tech-Unternehmen dürfte über die nächsten zehn Jahre verstärkt die Aufmerksamkeit von Wettbewerbern aus den USA oder Asien auf sich ziehen. Mit ihren viel größeren finanziellen Ressourcen könnten sie ihre europäischen Pendants leicht schlucken.
Damit droht der Ausverkauf der europäischen Tech-Branche - zumindest in Teilen. Wie begehrt diese Unternehmen sind, zeigt die jüngste Übernahme von Dialog Semiconductor durch den japanischen Chip-Hersteller Renesas oder die anstehende Übernahme des Silizium-Anbieters Siltronic durch Globalwafers. Aufgrund ihres hohen Streubesitzes ist selbst die Unabhängigkeit des Softwareriesen SAP langfristig nicht gesichert, wenn der Einfluss der Gründer zurückgeht. Als Bremse könnte bei ausländischem Übernahmeinteresse dann allenfalls noch der Staat wirken, sofern er sich einschaltet und den Verkauf von als strategisch wichtig erachteten Unternehmen oder Unternehmensteilen untersagt.
Vor- und Nachteile "zwischen den Stühlen" USA und China
Kurzfristig profitieren könnten europäische Unternehmen davon, dass sie "zwischen den Stühlen" USA und China sitzen. So dürften europäische Netzwerkausrüster weiterhin eine Nische im chinesischen Mobilfunkmarkt besetzen. Längerfristig sieht das Bild ungünstiger aus. Viele europäische Halbleiter-Unternehmen sind stark von US-Patenten abhängig. Zudem will sich China mit seiner Wirtschaftsstrategie unabhängig von ausländischem Hochtechnologie-Know-how machen.
Europäische Unternehmen mit einem hohen Umsatzanteil in China wie Infineon müssen auf der Hut sein, um dort langfristig den freien Marktzugang zu behalten. Es besteht das Risiko, dass sie sich entscheiden müssen, für welche Seite sie arbeiten wollen. Dies dürfte nicht ohne Einschnitte in Lieferketten und Kundenbasis einhergehen. Investoren sollten mögliche regulatorische und politische Eingriffe im Blick haben.
Um solchen Konflikten auszuweichen, bieten sich für Anleger stärker auf den europäischen Markt ausgerichtete Online-Händler mit nicht-zyklischen Konsumgütern oder Zahlungsdienstleistung an. Der E-Commerce-Markt ist groß genug, um auch neben US-Riesen zu bestehen, und in speziellen Produktkategorien ist ein profitables Geschäft möglich. Chancen eröffnen zudem Software-Unternehmen, die Lösungen für kleine und mittelgroße Firmen anbieten. Auch europäische Zahlungsdienstleistungstitel sind wettbewerbsfähig und können eine Alternative zu US-Tech-Aktien sein. Sie sind aber hoch bewertet.
Schwieriger ist die Lage auf dem App-Markt für die Lieferung von Essen. Die drei großen börsennotierten Spieler in Europa, Delivery Hero, JustEat Takeaway und Deliveroo, müssen erst beweisen, dass sie mit dem Geschäftsmodell auch Gewinne erwirtschaften können. Bisher wurde hier viel Geld für Marketing und teure Zukäufe verbrannt.
Im kleinen, aber feinen Tech-Universum Europas könnten Kurse längerfristig von Übernahmefantasien gestützt werden. Aufgrund gestiegener Renditen am Staatsanleihemarkt und höheren Inflationserwartungen erfuhren Technologie- und Wachstumsaktien zuletzt eine leichte Bewertungskorrektur gegenüber niedrig bewerteten Substanzaktien. Damit ergibt sich für langfristige Anleger eine Einstiegschance in ausgewählte europäische Werte. Die strukturellen Wachstumstrends für Technologiewerte sind auch in Europa intakt. Viele Trends - Digitalisierung, Automatisierung, mobiles Arbeiten - hat die Corona-Krise noch verstärkt. Auch die Verlagerung von Software ins Internet (Cloud-Computing) hat großes Wachstumspotenzial.
Weil strukturelle Wachstumstrends die Titel schützen, sind sie auch weniger zinssensitiv. Solange die Inflation nicht kräftig überschießt, besteht kein Anlass zur Sorge. Viele Tech-Unternehmen erzielen hohe Mittelzuflüsse und haben keine oder nur eine geringe Verschuldung, sind also kaum vom Zinsumfeld abhängig. Zu unseren Favoriten zählen abgesehen von Aktien der Halbleiter-Zulieferer auch Anbieter im Bereich Zahlungsverkehr sowie ausgewählte Software-Titel aus der zweiten Reihe. Die hohen Bewertungen werden durch die guten Wachstumsaussichten gerechtfertigt.