Heute jährt sich zum 45. Mal die blutige Niederschlagung des Tibetischen Volksaufstandes gegen die chinesische Besatzungsmacht. Das Datum 10. März 1959 wurde zum Symbol für den verzweifelten Versuch der Tibeter, sich der systematischen Zerstörung ihrer Kultur und Religion zu widersetzen, die Peking unter dem Motto "patriotische Umerziehung" bis heute mit Militärgewalt, Repression und seit den 80er Jahren auch mit der gezielten Ansiedelung von Chinesen rigoros vorantreibt. Mit unumkehrbaren "Erfolgen": Tibets kulturelles Erbe ist weitgehend zerstört, die Bevölkerung wurde zur Minderheit im eigenen Land.
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Besonders deutlich zeigt sich die neue Realität in der Hauptstadt Lhasa, wo mittlerweile fast dreimal soviel Chinesen wie Tibeter leben. Das Stadtbild unterscheidet sich mit seinen Bars, Karaoke-Klubs und Bordellen kaum noch von einer x-beliebigen chinesischen Kleinstadt. Nur die dröhnenden Lautsprecher, die die alten Stadtbewohner im Tempelviertel von den frühen Morgenstunden an mit kommunistischer Propaganda versorgen, erinnern daran, dass man hier in Tibet ist. Die alten Wohnvierteln rund um den Potala-Palast, die Winterresidenz des Dalai Lama, wurden geschliffen, um neuen Plattenbauten Platz zu machen.
Doch zurück zur Geschichte: Nach dem Einmarsch der chinesischen Volksarmee im Jahr 1950 hatten die Tibeter zunächst versucht, sich mit den Besatzern auf eine friedliche Koexistenz zu einigen. Doch China weigerte sich, den Tibetern die Selbstbestimmung verbindlich zuzusagen und brachte statt dessen immer mehr Soldaten ins Land. Die zunehmende Unterdrückung entlud sich schließlich am 10. März 1959 in dem Volksaufstand in Lhasa. Der damals 24-jährige Dalai Lama, das weltliche und geistliche Oberhaupt der Tibeter, flüchtete über den Himalaya nach Dharamsala ins indische Exil, wo er bis heute lebt.
Die Spuren der Verwüstung, die bis heute nachwirken, sind nur mit dem Begriff des "versuchten Genozids" zu beschreiben. 860.000 der sechs Millionen Tibeter fielen nach Schätzungen dem Vernichtungsfeldzug zum Opfer, der unter dem Deckmantel von "demokratischen Reformen" vor allem die Ausmerzung des religiösen Lebens als der wichtigsten Säule der tibetischen Gesellschaft zum Ziel hatte.
Die gesamte geistige Elite wurde eliminiert, sofern ihre Vertreter nicht zu den 100.000 zählten, die sich durch Flucht retten konnten. Nahezu alle 6.000 Klöster und Tempel fielen der Zerstörungswut der Kommunisten zum Opfer. Hunderttausende Mönche, Nonnen und "Reaktionäre" landeten in Gefängnissen oder Arbeitslagern. 93.000 Tibeter und Tibeterinnen wurden zu Tode gefoltert. 173.000 kamen in den Lagern, in denen sie unter den unmenschlichsten Bedingungen Zwangsarbeit verrichteten mussten, um. 156.000 Tibeter wurden hingerichtet. Hinzu kommen 9.000 Tibeter, die sich freiwillig das Leben nahmen, um nicht in die Fänge ihrer Verfolger zu geraten.
Maos "großer Sprung vorwärts"
Während Mao Tsetungs Kulturrevolution gingen die Besatzer ab 1966 auch zur Terrorisierung der einfachen Landbevölkerung über. Die Parole dazu lautete Modernisierung. Alles, was irgendwie an Religion erinnerte, die traditionelle Kleidung oder selbst das Kalken der Häuser zum Neujahrsfest, galt als Ausdruck "kleinbürgerlicher Gesinnung", und wurde brutal geahndet. Als besonderen Horror erlebten die Tibeter die vorgeschriebenen all-abendlichen Klassenkampfsitzungen, auf denen sich die Hochlandbewohner gegenseitig beschimpfen, schlagen und sich ins Gesicht spucken mussten. Weitaus fatalere Auswirkungen hatte jedoch die Zwangskollektivierung der Bauern und Nomaden. Der ersten Hungersnot in der Geschichte Tibets fielen 340.000 Menschen zum Opfer.
Tibet bestand zu jener Zeit nur noch aus der Hälfte seines ursprünglichen Territoriums. Den Westen ließ Mao 1965 zur "Autonomen Region" (TAR) erklären, während die östlichen Provinzen Amdo und Kham dem Mutterland einverleibt wurden.
Nach den kulturrevolutionären Wirren begann Peking 1976 mit einer vorsichtigen Liberalisierung, die jedoch auf wirtschaftliche Belange beschränkt blieb. Neben der industriellen Erschließung wurden in Tibet vor allem Schulen und Hochschulen errichtet, die die zerstörten Ausbildungszentren in den Klöstern ersetzen sollten. Die politische Öffnung blieb hingegen in den Kinderschuhen stecken.
"Unterdrückung neu"
Kritische Äußerungen gegen die Besatzungsmacht, das Eintreten für Tibets Unabhängigkeit, das Aufhängen bzw. Verteilen von Flugzetteln und die Teilnahme an Demonstrationen werden bis heute rigoros geahndet. Die Zahl der politischen Häftlingen liegt zur Zeit um die 300. Trotz der enormen Repression gehen vor allem Mönche und Nonnen in Tibet immer wieder auf die Straße, um Freiheit und Selbstbestimmung einzufordern. Sie verbüßen dafür bis zu 15-jährige Haftstrafen. Auch Minderjährige werden eingesperrt, wie im Fall der "14 unbeugsamen Nonnen", die 1989 auf einer Kundgebung verhaftet wurden. Die jüngste von ihnen war damals 13 alt. Die letzte Nonne wurde erst vor kurzem dank internationalem Druck entlassen. Tibeter, die die Haft überlebten, berichten von brutalen Foltermethoden wie der "Behandlung" mit Elektrostäben, die den Gefangenen in den Mund gesteckt werden. "Der Schmerz ist so groß, dass man das Bewusstsein verliert", schilderte ein Ex-Häftling im Exil.
Auch mit der Religionsfreiheit, die seit den 80er Jahren formal wieder besteht, ist es nicht weit her. Zwar erlaubten die Verwaltungsbehörden Mitte der 80er Jahre den Wiederaufbau von 250 (der 6.000 zerstörten) Klöstern, das geistige Leben darin ist jedoch der totalen Kontrolle des Staates unterstellt. Ins Exil geflohenen buddhistischen Gelehrten wurde die Rückkehr verwehrt, was das religiöse Studium und die Weiterentwicklung der tibeto-buddhistischen Lehre unmöglich macht. Die Klöster dienen deshalb, so die Kritik vieler Tibeter, vor allem als Touristenattrappen, mit denen ausländische Besucher angelockt werden sollen.
Die Einflussnahme auf die Geistlichen nahm in den letzten Jahren drastisch zu. 1994 startete eine "Kampagne zur patriotischen Umerziehung", die Erinnerungen an die Kulturrevolution wach werden lassen. Der Besitz von Dalai-Lama-Bildern wurde untersagt. Sogenannte "Demokratische Verwaltungskomitees" suchen die Klöster auf, wo sie die Mönche und Nonnen in Versammlungen dazu zwingen, den Dalai Lama zu denunzieren und die historische Einheit von Tibet und China zu preisen. Die Tibeter verloren so im Jahr 2000 den letzten hohen Würdenträger, der sich noch im Land befand. Der 14-jährige XVII. Karmapa, das Oberhaupt der Kagyüpa-Schule, war nicht bereit, den Dalai Lama als "Haupthindernis für eine normale Ordnung im tibetischen Buddhismus" zu verleumden und flüchtete. Eine willkommene Auswirkung von Chinas Würgepolitik, die beizeiten kriminelle Ausmaße annimmt. 1995 entführten die Behörden kurzerhand einen von den Tibetern als Reinkarnation des verstorbenen X. Panchen Lama (der Nummer Zwei in der tibetischen Hierarchie nach dem Dalai Lama) bestimmten 6-jährigen Buben, um dann einen eigenen Anwärter zu präsentieren. Bis heute fehlt von dem mittlerweile 15-Jährigen und seiner Familie jede Spur. Der Fall sorgte damals für internationale Schlagzeilen.
Willkommen, Chinesen
Neben der systematischen Zerstörung des religiösen Lebens in Tibet stellt vor allem die Anfang der 80er Jahre begonnene Massenansiedlung von Chinesen eine Bedrohung für das Überleben der eigenen Kultur dar. Millionen Chinesen, die im Mutterland keine Arbeit finden, werden mit großzügigen staatlichen Vergünstigungen ins Land gelockt. Und sie kommen immer zahlreicher. Die 4,5 Millionen Tibeter wurden zur Minderheit im eigenen Land. Die meisten Zuwanderer lassen sich als Händler oder Industriearbeiter in den Städten nieder. Auch die Tourismusindustrie ist fest in chinesischer Hand. Nun soll eine Eisenbahnlinie nach Lhasa den Zustrom aus dem Reich der Mitte noch erhöhen. Die Bauarbeiten sind bereits voll im Gange.
Ausbeutung der Reichtümer
Für China ist das Dach der Welt nicht zuletzt auch wegen seiner reichen Bodenschätze interessant - die Chinesen nennen Tibet denn auch Xizang - "Schatztruhe des Westens". Zu einem lukrativen Geschäft wurde neben der Erdölförderung und den Goldminen vor allem die Abholzung der riesigen Waldgebiete in Zentral- und Südosttibet. Die Einnahmen aus dem Holzgeschäft beliefen sich nach chinesischen Angaben bis jetzt auf rund 55 Mrd. Dollar. Rund die Hälfte der 220.000 km2 Waldfläche wurde durch den Kahlschlag zerstört, China begann jedoch mit einem Aufforstungsprogramm. Tibet birgt auch reiche Vorkommen an Uranerz, Silber, Mangan, Chrom, Erdgas - und Wasser. Alle großen Flüsse Asiens, darunter der Indus, Ganges, Mekong und Jangtse entspringen dem tibetischen Hochplateau. Peking will sich diesen Vorteil zu eigen machen und plant in Ngaba in der Provinz Sichuan ein Staudamm-Projekt.