Nach dem SPD-Rückzug bleibt eine Koalition der Unionsparteien mit FDP und Grünen die einzige realistische Option. | Doch auch wenn diese Konstellation durchaus ihren Reiz hat, sind die Gräben zwischen den Parteien mitunter tief.
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Berlin/Wien. In einer wesentlichen Frage waren sich Christian Lindner und Katrin Göring-Eckardt immerhin schon vor zwei Wochen einig. Fast wortgleich hatten der FDP-Chef und die grüne Spitzenkandidatin die Frage nach der Chance einer Jamaika-Koalition damals damit beantwortet, dass ihnen für ein derartiges Bündnis schlicht und einfach die Fantasie fehle.
Fantasie dürfte nach diesem Wahlsonntag in Deutschland allerdings nicht mehr die alles entscheidende Kategorie sein. Denn seit SPD-Chef Martin Schulz angekündigt hat, seine Partei nach dem desaströsen Ergebnis in Opposition führen zu wollen, ist die Zusammenarbeit der beiden Unionsparteien CDU und CSU mit den Grünen und der FDP von einem wenig aussichtsreichen Gedankenexperiment zur rechnerisch einzig realistischen Regierungskonstellation geworden. Denn wenn sich die SPD nicht doch noch bewegen sollte, was aufgrund des fast schon trotzigen Auftritts von Schulz am Wahlabend derzeit wenig wahrscheinlich erscheint, bleibt angesichts der unüberbrückbaren inhaltlichen Gräben zur AfD und der Linken eigentlich nur noch eine Minderheitsregierung. Und die gilt im stabilitätsorientierten Deutschland als die schlechtestmögliche Variante von allen.
Zankapfel Klimaschutz
Dass es nun mehr um staatspolitische Verantwortung und weniger um Fantasie geht, macht die Sache für Grüne und Liberale aber nicht unbedingt einfacher. Denn aus demografischer Sicht bearbeiten die beiden Kleinparteien zwar sehr ähnliche Wählerschichten, auf inhaltlicher Ebene gibt es aber dennoch enorme Unterschiede. Besonders deutlich wird dies etwa im Bereich Klimaschutz. So steht im Wahlprogramm der Grünen, dass ab dem Jahr 2030 keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr neu zugelassen werden sollten. Bei der FDP, die in vielen Bereichen auf eine Regelung durch Marktmechanismen setzen will, steht man einem solchen Verbot ablehnend gegenüber. Die Liberalen halten fossile Energieträger "auf absehbare Zeit" für unverzichtbar.
Tiefe Gräben zeigen sich auch beim Thema Steuern. Denn während sich die FDP für eine umfangreiche Abgabensenkung starkmacht, wollen die Grünen nur jene entlasten, die ein geringes Einkommen haben. Spitzenverdiener sollen dagegen künftig deutlich stärker zur Kasse gebeten werden.
Ganz und gar nicht zusammenpassen wollen schließlich auch die Pläne im Sozialbereich. Denn während die Grünen eine Bürgerversicherung anstreben, die das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenkasse beendet, marschiert die FDP genau in die andere Richtung. Geht es nach ihr, soll die als "staatliche Zwangskasse" kritisierte Bürgerversicherung auf gar keinen Fall kommen.
Massive Differenzen gibt es allerdings nicht nur zwischen den Grünen und den Liberalen. Denn Schwarz-Gelb-Grün ist eigentlich weniger ein Dreier-Bündnis als ein Vierer-Bündnis, bei dem auch eine klar geschwächte und daher künftig umso unberechenbarere CSU mit im Boot sitzt. Und wenn die bayerische CDU-Schwesterpartei, so wie bereits angekündigt, versucht, die von der AfD aufgerissene rechte Flanke zu schließen, wird es vor allem für die Grünen unmöglich werden, hier mitzugehen. Wasserscheide dürfte dabei vor allem die Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen sein, die CSU-Chef Horst Seehofer ein Jahr vor der bayerischen Landtagswahl unbedingt in den Koalitionsvertrag schreiben will.
Eine Frage des Preises
Ein Jamaika-Bündnis zu schmieden könnte, für Kanzlerin Angela Merkel aber nicht nur wegen dieser inhaltlichen Differenzen schwierig werden. Denn sowohl die Grünen, die sich leicht verbessern konnten, als auch die fulminant wieder in den Bundestag eingezogene FDP strotzen nicht nur vor neuem Selbstvertrauen. Beide Kleinparteien wissen angesichts des SPD-Rückzugs auch um ihre Alternativlosigkeit. Und beides zusammen könnte dazu führen, dass der Preis in den Koalitionsverhandlungen so weit hochgetrieben wird, bis einer der Partner nicht mehr mitkann. "Wir lassen uns nicht in eine Regierung zwingen", sagt FDP-Chef Christian Lindner am Montag. Ein Regierungseintritt der Liberalen sei nur bei einem spürbaren Regierungswechsel möglich. Ähnlich klingt das auch bei den Grünen. Es gebe keinen Automatismus für ein Bündnis mit CDU, CSU und FDP, betont Grünen-Chef Cem Özdemir. Für Merkel wäre das der Gau. Der Kanzlerin bleiben damit nämlich nur noch zwei Möglichkeiten offen: Nämlich die Koalitionsverhandlungen bis in den Dezember zu verschleppen, in der Hoffnung, dass es beim dann stattfindenden SPD-Parteitag aufgrund des wachsenden Drucks doch noch ein Umdenken gibt. Oder Neuwahlen auszurufen.
Doch auch wenn die Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis schwieriger sein dürften als alle bisherigen Koalitionsgespräche, hat diese Konstellation auch einen besonderen Reiz. Denn Grüne und Liberale haben bei den großen Themen wohl den stärksten Aufbruchswillen im Parteienspektrum. So würde bei einer Regierung unter grüner Beteiligung der Klimawandel, der von der großen Koalition zuletzt nahezu ausgeblendet wurde, plötzlich wieder ganz oben auf der Agenda stehen. Und mit der FDP könnte es neue Zugänge bei Asyl und Integration geben, etwa wenn es darum geht, ein Einwanderungssystem nach kanadischem Vorbild durchzusetzen. Dringend benötigten Schwung könnte es bei einer Jamaika-Koalition auch bei Bildung oder Digitalisierung geben. Vor allem wäre es aber ein Zeichen, dass es in Deutschland trotz der Erosion der Großparteien eine starke Mitte gibt.