US-Psychologin befasst sich mit der Bildung doppelter kultureller Identitäten.
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Wien. Mit der eigenen kulturellen Identität befasst man sich meist dann, wenn sie nicht mehr selbstverständlich ist. Migranten, deren Umfeld sich von der Herkunftskultur unterscheidet, setzen sich damit stark auseinander, sagt die Psychologin Jean S. Phinney von der University of California im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Eine zentrale Frage für viele Jugendliche in Einwandererfamilien ist: Kann ich zwei Kulturen gleichzeitig angehören?
Kulturelle Identität
Phinney hat sich gemeinsam mit Kollegen in der umfassenden, in 13 Ländern durchgeführten "ICSEY-Studie" (International Comparative Study of Ethnocultural Youth) mit der kulturellen Identität von Migranten zwischen 14 und 18 Jahren auseinandergesetzt. 5360 Menschen aus 33 Zuwanderungsgruppen wurden befragt. Beim "Österreichischen Wissenschaftstag" am Semmering stellte sie die Ergebnisse vor.
Die kulturelle Identität bestimme darüber, welchen Platz man in der Welt hat und was man unter normal versteht, erläuterte Phinney. Sie entstehe durch das "grundlegende menschliche Bedürfnis, etwas Größerem als man selbst ist, anzugehören." Erfassen lasse sich die kulturelle Identität über zwei andere Identitäten: die nationale und die ethnische. Bei der Mehrheitsgesellschaft sind beide Identitäten meist identisch. Bei Zuwanderern ist die Sache komplexer: Migranten, die sich stärker dem Land, in dem sie leben, zugehörig fühlen, hätten eher eine nationale kulturelle Identität. Fühlten sie sich hingegen besonders der Kultur ihrer Eltern verbunden, dominiere bei ihnen die ethnische Identität. Wer ein bikulturelles Profil aufweist, kann beides - die nationale und die ethnische Identität - miteinander kombinieren.
Auf ein bikulturelles Profil treffe man besonders bei jungen Zuwanderern, betont Phinney, freilich muss es sich auch ausbilden können, und das hänge von mehreren Faktoren ab. Verstärkt werde etwa die ethnische Identität durch eine stark homogene Nachbarschaft und Erfahrungen der Diskriminierung. Besonders verbreitet ist Bikulturalität in Ländern mit einer langen Erfahrung der Zuwanderung und wenig Diskriminierung: Mehr als 50 Prozent der Befragten in klassischen Einwanderungsländern (USA, Kanada, Australien) haben ein bikulturelles Profil. Anders in Portugal, Norwegen (29 Prozent) oder Finnland (18 Prozent).
Die Ausprägung von Bikulturalität ist je nach Einwanderungsgruppe verschieden. In Frankreich konnten 47 Prozent der jungen Vietnamesen ein bikulturelles Profil entwickeln, bei nur acht Prozent ist das ethnische dominierend. Anders die Türken: 38 Prozent sehen sich in Frankreich als "ethnische Türken", nur 35 Prozent als "türkische Franzosen". Auf diesen Unterschied zwischen Vietnamesen und Türken stößt man auch in anderen Ländern.
Dass Diskriminierungserfahrungen zur Ausbildung primär ethnischer kultureller Identitäten beitragen, zeigte die Befragung. "Sie nehmen dich nicht als vollen Bürger", sagte einer. Phinney: "Es ist ein Zusammenspiel von Vorlieben der Migranten und den Eigenheiten ihres Umfelds."
Bikulturalität wirkt sich laut Studie positiv auf Zufriedenheit, Selbstwertgefühl und schulische Leistungen aus. In den USA und Kanada werde Bikulturalität von der Politik gefördert, meint Phinney. Das bringe aber Herausforderungen: Dort muss sich auch die Mehrheitsgesellschaft mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Jedoch profitiere eine Gesellschaft davon: Es fördere gegenseitige Akzeptanz, bereichere das Zusammenleben, jeder könne sein eigenes kulturelles Erbe mitnehmen. "Man braucht andere Leute, egal welcher Herkunft oder Rasse sie sind", sagte ein Befragter der Studie.